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Soul Kitchen

Soul Kitchen

Titel: Soul Kitchen
Autoren: Jasmin Ramadan
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erwarteten! Begeistert reckte Herr Brigge seine Faust in die Höhe, als hätte er in einer olympischen Disziplin den Weltrekord aufgestellt.
    Was andere von ihm dachten, war tatsächlich etwas, das Zinos ziemlich verunsicherte. Doch was war, wenn er nur noch machte, was er wollte, ohne dabei an die anderen zu denken – und dann ging alles schief? Herr Brigge schien ganz begeistert darüber zu sein, dass Zinos voller Ängste und Zweifel steckte. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte:
    »Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.« »Aber was für eine Erkenntnis? Erkenntnis zu was denn, Herr Brigge?«, rief Zinos aufgeregt.
    »Die Erkenntnis darüber, was du willst – und was nicht. Nur dieses Wissen führt dich sicher durch dein Leben. Denn das Leben ist eine Komposition aller Entscheidungen, die man trifft.«
    Nichts war je einleuchtender gewesen als Herrn Brigges Worte in diesem Moment. Und wie auf Kommando brannte die Glühbirne über den Köpfen der beiden durch.
    Zinos entschied schon bei der nächsten Schulaufgabe umzusetzen, was Herr Brigge ihm geraten hatte. Seine Unsicherheit wies ihm den Weg. Jetzt musste er ihr nicht mehr, ja, er durfte ihr nicht mehr ausweichen.
    So wie Illias gesagt hatte: »Wer keine Angst hat, kann nicht mutig sein!«
    In Geschichte bekamen sie die Hausaufgabe, die wichtigsten Ereignisse des eigenen Geburtsjahres aufzuschreiben. Zinos entschied alles Politisch-Historische beiseitezulassen und schrieb in seinem Aufsatz über die Gründung von AC/DC und über den Vogel des Jahres l973, der der Eisvogel gewesen war. Er las seinen Aufsatz laut vor, und zum ersten Mal brachte er seine Mitschüler zum Lachen. Er bekam sogar Applaus. Der Geschichtslehrerin entglitt zwar ein Lächeln, trotzdem gab sie ihm eine Fünf.
    Es war die schlechteste Note, die er je bekommen hatte. Trotzdem hatte er keine Angst – sondern war bloß verunsichert. Zinos war bereit. Wofür, das wusste er zwar noch nicht, aber das machte ja nichts, denn Verunsicherung war ja der Wegweiser!
    Immer wieder hörte er Herrn Brigges Worte: »Nur wenn du deine Unsicherheiten erkennst, erkennst du dich selbst!«
    Unter all dem Speck und der Akne lauerte ein hübsches Bürschchen. Genau wie Illias trotz allem klug sein konnte, konnte Zinos auch ein gut aussehender Typ sein. Er beschloss, eine Mischung aus Prince und Herrn Brigge zu werden.
    Doch Zinos’ neue Kühnheit wurde bald erheblich gestört.
    An seinem achtzehnten Geburtstag weckten seine Eltern ihn frühmorgens. Sie strahlten so, als hätten sie selbst Geburtstag oder gerade eine Marienerscheinung gehabt. Zinos bekam ein Stück kalten Nudelauflauf, Mokka und Erdbeer-Kaba ans Bett. Dann schoben sie ihn aus der Wohnung und in den Volvo. Die Fahrt ging raus aus Altona in Richtung Innenstadt.
    Sie hielten bei der Musikhalle, liefen ein Stück und blieben schließlich in der Nähe des Gänsemarktes vor einem schäbigen Altbau stehen. Sein Vater zückte einen Schlüssel. Ganz oben angekommen, schloss er die Tür zu einer wirklich kleinen Wohnung auf. Es war nur ein Raum mit Miniküche, in deren Ecke auch noch eine Duschkabine untergebracht war. Es gab kein Bett, aber Zinos’ Vater zog und rüttelte plötzlich an dem riesigen gemusterten Sofa, wobei er die ganze Zeit über »Warte, warte, warte!« rief. Er war erst wieder still, als sich das Bettsofa in seiner ganzen multifunktionalen Pracht entfaltet hatte.
    Zinos wurde wieder nach draußen gezerrt, wo seine Eltern auf das mit Geschenkpapier beklebte Klingelschild deuteten und das Papier abrissen. Da stand es: ZINOS KAZANTSAKIS. Shit. Zinos wollte doch gar nicht ausziehen! Es war verstörend, wie seine Eltern sich freuten. Vor allem, als sie mit der ganzen Wahrheit rausrückten. Die Eigentumswohnung war nämlich eher ein Geschenk an sie selber – an ihre Freiheit. Sie hatten die Tickets für die Rückkehr nach Griechenland längst gekauft. Zinos protestierte. Er argumentierte, sie könnten jetzt nicht abhauen, sonst entginge ihnen die volle Rente. Doch Zinos’ Vater, der noch immer das Deutsch eines Vorbeiziehenden sprach, brachte es mit seinem ersten und letzten Satz in korrektem Deutsch auf den Punkt:
    »Besser arm an Land als reich auf See!«
    Schon in zwei Wochen würden sie sich für immer aus Deutschland verabschieden. Zinos flehte, sie sollten ihn mitnehmen, aber seine Mutter beschwor ihn zu bleiben: wegen der Schule, wegen des Studiums. Er solle Arzt werden und dann nach Griechenland kommen,
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