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Soul Kitchen

Soul Kitchen

Titel: Soul Kitchen
Autoren: Jasmin Ramadan
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vom Krieg und von der Vertreibung zugehört hatte.
    Unser Haus lag an der Hauptstraße im Dorf. Wenn ein Auto vorbeifuhr, fragte meine Großmutter, wer das gewesen sei. Es war ihr unbegreiflich, dass Autos von weiter her kommen konnten als aus den umliegenden Dörfern – so klein war die Welt, die sie aus Schlesien mitgebracht hatte.
    Zu dem Haus, in dem wir wohnten, gehörte ein Hinterhof, der war umgeben von einem Gemüsebeet, einem Holzschuppen und der Waschküche. Im Hof war auch das Klo, die Fäkalien flossen in eine Grube neben der Waschküche, und wir Kinder machten uns einen Spaß draus, den Deckel zu heben und hineinzuschauen.
    Manchmal sah ich meinem Großvater zu, wie er im Schuppen einen Hasen schlachtete. Es war einer der Hasen aus dem Stall im Hof. Wir Kinder spielten gern mit ihnen und fanden nichts dabei, wenn sie später geschlachtet wurden. Mein Großvater mochte Hasenbraten. Früher war er Schmied gewesen. Doch er hatte sich immer geweigert, in einem der kleinen Nebengebäude unseres Hauses eine Werkstatt einzurichten, um dort seinem Beruf nachzugehen. Es lohne sich nicht, sagte er, in zwei, drei Monaten würde man doch sowieso zurückkehren nach Schlesien, in die Heimat. Er sagte es 20 Jahre lang. Und er hatte jedes Recht dazu, denn er war der Herr über die Zeit im Dorf. Der Pfarrer – es war derselbe, der uns im Religionsunterricht dann und wann mit einer kräftigen Ohrfeige den Weg zum wahren Glauben wies – hatte meinen Großvater zum Mesner bestellt. Zu seinen Aufgaben gehörte es, jeden Tag die Treppe zum Glockenstuhl des Kirchturms hinaufzusteigen, um dort mit einem mächtigen Schlüssel das Uhrwerk der Turmuhr aufzuziehen. Hätte er nur gesäumt, wünschte ich nun manchmal – die Zeit wäre stehengeblieben, und ich säße immer noch behütet bei der Großmutter und hörte ihren Geschichten zu.
    Doch er säumte nie, der Großvater, und so fuhr an einem heißen Sommertag im Juli der Krankenwagen über die Dorfstraße, blieb vor unserem Haus stehen und holte ihn ab.
    Ich weiß noch genau, wie meine Mutter versuchte, es mir zu erklären. Er sei krank, der Opa, und deshalb müsse er zum Arzt.
    Ich verstand damals nicht, warum ihre Stimme bebte, warum sie klang, als müsste sie mich trösten. Eine Woche später war der Großvater tot. Aber die Welt, in der er gelebt hatte und in der auch ich lebte, war noch da.
    Erst nach und nach wurde mir klar, dass der Großvater nie mehr zurückkommen würde. Ich verstand es nicht ganz. Eigentlich verstand ich es auch später nie.
    Abends fragte ich Bastian, ob ich ihn eine Weile allein lassen könne. Er hatte nichts dagegen, natürlich nicht, denn damit gewann er die Kontrolle über das Fernsehprogramm und konnte sich die japanischen Trickfilme ansehen, die ich so hasse.
    Es war ein kühler, klarer Herbstabend, aus der U-Bahn strömten frierende Menschen und gingen zielstrebig ihrer Wege. Es gibt Augenblicke, da glaubt man, die ganze Welt sei auf dem Heimweg, auf alle warte ein lauschiges Plätzchen hinter dem Ofen … Auf alle, nur auf einen selbst nicht.
    „Glauben Sie das wirklich?“, hatte die Therapeutin mich einmal gefragt.
    „Ja, manchmal schon.“
    „Das ist nichts anderes als eine Projektion. Gebrauchen Sie Ihre Phantasie. Es könnten auch kaputte Beziehungen, ein grauer Alltag und einsame Menschen hinter all diesen Fenstern stecken.“
    „Oder auch glückliche Paare …“
    „Sicher. Das auch. Vielleicht sogar glückliche Singles. Oder glückliche alleinerziehende Väter!“
    „Hmm …“
    „Es ist, wie es ist. Wie kommen Sie darauf, dass das Leben immer schön sein muss?“
    Ich wusste nicht, wie ich darauf kam. Es war nur so ein Gefühl.
    An einem verregneten Sommertag im Juni vor sechs Jahren hatte ich Martha zum ersten Mal gesehen. Damals lebte ich schon seit einem Jahr allein mit Bastian. Karin, seine Mutter, war in die USA gegangen.
    Es war zwangsläufig ein sehr zurückgezogenes Leben, das ich führte. Morgens brachte ich Bastian in den Kindergarten, arbeitete, holte ihn am Nachmittag wieder ab, ging mit ihm auf den Spielplatz, steckte ihn um acht ins Bett, legte mich auf das Sofa und schaltete den Fernseher an. Es war ein Status quo, den ich hinnahm und den ich manchmal auch genoss. Und doch fragte ich mich oft, wie lange das so weitergehen sollte. Denn es gab Augenblicke, da war mir mein Leben völlig fremd.
    Ab und zu brachte ich Bastian zu meinen Eltern und fiel zurück in jene Gepflogenheiten, die mir vertraut waren:
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