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Soul Kitchen

Soul Kitchen

Titel: Soul Kitchen
Autoren: Jasmin Ramadan
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heißes Wasser nachgießen. Ab und zu sollte man nach dem Teelicht sehen und es auswechseln, falls es erloschen ist. Wenn die Kanne leer ist, unbedingt noch mal mit geschlossenen Augen an der Zitronenschale riechen. Abends dann gut und reichlich essen.

Eisvogel und AC/DC
    »Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.«
    Seit Zinos zehn war, befürchtete er, nichts in seinem Leben würde sich je verändern. Sein Bruder Illias dagegen war nur zwei Jahre älter als er, hatte aber längst aufgehört, sich für die gemeinsame Carrerabahn zu interessieren. Zinos’ Wiederbelebungsversuche blieben vergeblich. Dabei war die Carrerabahn immer der beste Anlass für Kloppereien gewesen, die reinigend waren – und die brüderliche Gemeinschaft stärkten.
    Statt wie früher gleich nach dem Aufwachen mit Zinos zu spielen – so lange, bis die Mutter drohte, das Frühstück den Armen auf der Straße zu bringen –, trainierte Illias ein paar Minuten mit einem Springseil, ehe er dann sofort das Haus verließ.
    Das gemeinsame Zimmer der beiden war fast zwanzig Quadratmeter groß. Illias hatte schon mit sechs Jahren auf dem Bett bestanden, das der Tür zugewandt stand. Schon damals war er stets auf der Hut gewesen: Bei jedem Spiel mit den Actionpuppen musste Zinos die FBI-Typen spielen, die internationale Einsatztruppe, den dümmlichen Polizisten. Illias durfte immer auf der Flucht sein, und am Ende erledigte er Zinos’ Truppen mit einem einzigen vernichtenden Schlag.
    Er hatte diese Rollenverteilung längst satt. Doch selbst ihre beiden Meerschweinchen, Rummenigge und Maradona, mussten die immergleiche Tour durch die olle Arieltonne machen. Zinos’ Meerschweinchen verblieb stets in der Tonne – weil Illias ihm mit einem Playmobil-Lkw den Weg abschnitt.
    Maradona starb lange vor Rummenigge. Doch das blieb nur ein kurzer Triumph für Zinos. Nach einem Tag der Trauer adoptierte Illias einfach das Tier seines Bruders. Zinos musste eine Buntstiftzeichnung dreimal unterschreiben. Auf dem Blatt war ein stilisiertes Meerschweinchen zu sehen und daneben ein Pfeil, der auf ein großes, starkes Strichmännchen zeigte, das den Namen Illias trug.
    Nicht, dass Illias ein ausgeprägtes Interesse am Malen und Zeichnen pflegte – nein, es war nur so, dass er große Probleme mit dem Schreiben hatte, die er auch bis zur vierten Klasse nicht löste. Viel mehr als seinen Namen konnte er aus Buchstaben nicht machen.
    Die Eltern weigerten sich, Tests durchführen zu lassen, die wohl eine Legasthenie zutage gefördert hätten. Sie sprachen damals so gut wie kein Deutsch. Möglich, dass sie also einfach nicht verstanden, was das Anliegen der besorgten Lehrerin war. Auch möglich, dass sie in jeder Hinsicht besser zu wissen glaubten, was gut für ein Kind ist.
    Die Mutter jedenfalls unterrichtete Illias schon früh in Trauerarbeit. Sie warf Maradona, immerhin in Geschenkpapier gewickelt, in den Müllcontainer im Hof. Zinos musste im Auftrag seines Bruders nach dem geblümten Päckchen suchen; seine Füße waren unter den Armen von Illias festgeklemmt, und so hing er vornüber im Müllcontainer. Als er das Päckchen hochzog, rutschte Maradona heraus. Illias sprang nun selbst in die Tonne, um die Leiche zu bergen.
    Er hielt die Klinge seines Taschenmessers noch einmal vor das kleine Maul, um sich des Tierchens Ende zu versichern. Dann wurde Maradona im Steinpissoir des Spielplatzes verbrannt.
    Es war an diesem Abend im Jahre l983, als Zinos seinen Bruder zum letzten Mal weinen sah.
    Illias lernte auch auf der Hauptschule nicht Schreiben. Aber er lernte schnell, sich auf andere Weise deutlich auszudrücken. Nachdem er auf dem Schulhof alles erreicht hatte, suchte er sich ein neues Terrain.
    Eine Weile spielte er Fußball, und er hatte einen Trainer, der etwas von ihm hielt. Bald aber arbeitete er lieber mit den Schiedsrichtern zusammen – und erkannte, dass es auch Karrieren ohne Schulabschluss gab.
    Mit Zinos spielte er da schon lange nicht mehr. Sie teilten zwar noch ihr Zimmer, doch Illias nutzte es nur noch als eine Art begehbares Schließfach. Er befahl, das Zimmer immer abzuschließen. Und es war Zinos verboten, in die Kartons zu gucken, die überall herumlagen und sich türmten. Den Eltern verkündete Illias, in der Pubertät sei das eigene Zimmer die wichtigste Intimzone.
    Zinos glaubte, er würde mit Ordnung, seinem Fleiß und der Tatsache, dass er sich Zeit mit dem Erwachsenwerden ließ, die Eltern über die ständige Abwesenheit des
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