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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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seines Vaters erfahren hatte, stürzte er sofort in die Villa und hörte, dass seine Mutter den Mord begangen hatte. Şemi Abi wusste gar nicht, was er mehr betrauern sollte: dass seine Mutter eine Mörderin war, dass sein Vater tot war oder dass er selbst letztlich für all das verantwortlich war. Ein unerwartetes Problem tauchte vor ihm auf. Wohl weil er seiner Frau auch im Jenseits keine Ruhe gönnen wollte, hatte sein Vater verfügt, neben ihr begraben zu werden, aber die arme Frau war dicht umrahmt von anderen Toten. Es blieb also nichts anderes übrig, als ihn in ihr Grab zu betten. Natürlich war Necla Hanıms Grab leer, und wäre dies herausgekommen, wäre alles ruiniert gewesen. Glücklicherweise konnte Şemi Abi, wenn auch mit Mühen, auch dieses Problem aus der Welt schaffen. Als Rebi Abi beim Anblick der Gebeine seiner Mutter in Ohnmacht fiel, hatte sich der Totengräber, der schwor, einen Tag zuvor das Grab kontrolliert zu haben, keinen Reim darauf machen können. Er konnte ja nicht ahnen, dass Şemi Abi mitten in der Nacht Knochen aus wer weiß welchem Grab zusammengeklaubt und in die letzte Ruhestätte seiner Mutter platziert hatte. Das war es also, was sich hinter den Kulissen der mysteriösen Geschichte abgespielt hatte!
    Während wir in Hicabi Beys Wohnung das Totengebet erwarteten, tischte ich meiner Mutter die Lüge auf, ich hätte etwas zu erledigen, das nicht länger als zehn Minuten dauern würde, und begab mich durch den Geheimtunnel in die Villa. Nicht Zweifel an der Richtigkeit meiner Vermutungen trieben mich dorthin. Ich wusste ganz genau, was mich erwartete. In Kürze würde ich vor aller Augen die Lösung des Mordfalls präsentieren, und wahrscheinlich konnte ich nicht zum letzten Schlag ausholen, ohne dem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Ich würde kriegen, was ich wollte.
    Mit glanzlosen Augen sah Necla Hanım mich an. Mit der Zunge fuhr sie sich über die ausgetrockneten Lippen, sprach das Glaubensbekenntnis und knurrte: »Ich habe dich erwartet.« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. »Ich habe dich auch schon vorher gesehen.«
    »Sie müssen mich im Keller gesehen haben«, gab ich zurück.
    »Ich habe Sie allerdings für jemand anderen gehalten. Es war sehr dunkel.«
    »Hast du mir deswegen nicht das Leben genommen?«
    »Ich verstehe nicht …«
    Ihr Gesichtsausdruck sollte wohl eine Art Lächeln andeuten. »Du kannst mich nicht hinters Licht führen«, sagte sie und schüttelte ihre knochige Hand. Dann streckte sie ihren Zeigefinger nach meiner Nase aus. »Du bist der Todesengel.«
    Dagegen hatte ich keine Einwände. Bevor ich ging, hatte ich kurz das Verlangen, ihre Hand zu nehmen, doch ich verwarf die Idee sofort. Ich gehörte nicht zu den von Gott Auserwählten, die in seinen Schäfchen das Gefühl von Vertrauen und Liebe erwecken konnten. Ich würde auch nie ein solcher werden. Ich stieg die Treppe hinunter, ging vorsichtig zwischen den Seifenmonstern hindurch und trat hinaus auf den Hinterhof. Dort überwand ich diverse Mauern, sprang auf Überdachungen, schlüpfte an den Kohleschuppen vorbei und kam so auf direktem Wege zu Hicabi Beys Haus.
    So kehrte meine Wenigkeit, der Mörder der Gefühle, ein weiteres Mal an den Tatort zurück. Die Lage im Totenhaus war sogar angenehmer, als ich erwartet hatte. Womöglich erlebte das Haus den kurzweiligsten Tag in seiner Geschichte. Es herrschte ein lebhaftes Treiben: alte Hexen, die an vorzeitigem Tränenerguss litten, noch bevor das Gebet überhaupt begonnen hatte, ein durchgeknalltes Weib, das Grieß-Helva kochte und dabei von ihren spirituellen Erfahrungen faselte, die Brüder Şemi und Rebi, die in der Position der Hausherren herumflatterten wie aufgescheuchte Hühner, der Krämer Yakup, der mit den Händen seine Knie massierte und von den netten Verrücktheiten des Verblichenen sprach, Männer, die Kette rauchten und vor Langeweile fast platzten … Bekanntermaßen sprechen alle berühmten Detektive, wenn sie am Ende ihrer Untersuchungen ihre genialen Falllösungen offenbaren, eine riesige, begeisterte Zuschauermenge an. Als letzter Vertreter dieser Tradition würde auch ich, während ich die verblüffenden Geheimnisse, die hinter Hicabi Beys Ermordung steckten, einzeln ans Tageslicht beförderte, gemeinsam mit diesem Heer von Verlierern und Verrückten in die Geschichte eingehen.
    Dass Metin Bilgin und Onur Çalışkan das Haus des Toten beehrten, steigerte meine Aufregung vollends in höchste
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