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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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nun, an der Schwelle des Todes, mit ihren Träumen ins Reine zu kommen. Die Würde, die trotz des Leids, das sie erlitten hatte und immer noch erlitt, in ihrem Gesicht stand, musste von dem Glück herrühren, die letzten Tage ihres Lebens in vollen Zügen vergeudet zu haben. Der Mörder war einer von uns. Und diese Person machte gefüllte Weinblätter, nach denen man sich die Finger leckte. Wie bei dem Vergangenheitsfresser Castratus verlief mitten auf ihrer Stirn zu den Haaren hin eine tiefe Narbe. Diese Narbe musste ein Andenken an den Tag sein, an dem – mit den Worten des Krämers Yakup – ihr Kopf auseinanderkrachte wie eine Diyarbakırer Wassermelone. Ja, Necla Hanım war nicht gestorben, als sie aus dem dritten Stock sprang, um der Folter durch ihren Ehemann ein Ende zu bereiten. Sie war auch nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, wie Hicabi Bey überall behauptete, um ihren Selbstmord zu vertuschen. Necla Hanım lag hier, im Schlafzimmer einer verlassenen Villa, und starb vor meinen Augen.
    Wie dumm der Mensch doch hin und wieder sein konnte! Alles hatte von Anfang an vor meiner Nase gelegen, und hätte Öztürk meine Aufmerksamkeit nicht auf höchst angebrachte Weise auf die Vergangenheitsfresser gelenkt, hätte ich gar nichts begriffen. Dadurch, dass ein aus der Vergangenheit kommendes und kaltblütig mordendes Lebewesen, also Necla Hanım, eine Komponente der Gleichung geworden war, gewann ein Haufen verworrener Details an Bedeutung und formte sich in meinem Kopf zu einer Geschichte – Theorie wäre zu viel gesagt –, die alles perfekt erklärte.
    Die Geschichte lautete so: Hicabi Beys Perversion – möge er sich nicht im Grab herumdrehen –, sich Lustgewinn dadurch zu verschaffen, dass er den verrückten Ertan und Alev Abla beobachtete und fotografierte, während sie sich paarten, reichte weit in die Vergangenheit zurück. Das war es zweifellos auch, was hinter den von Rebi Abi erwähnten Bemühungen »um Integration der jungen Leute in die Gesellschaft« steckte. Die armen Kerle, die Hicabi Bey auf dem Polizeirevier ausgeliefert waren, nahm er mit nach Hause, und während sie mit seiner jungen Frau zusammen waren, kam er auf seine Kosten. Und wie schaffte es dieser durchschnittliche Perversling, dass so viele Menschen schwiegen? Bei den Männern griff er vermutlich auf Drohungen zurück, bei seiner Frau auf ihr Schamgefühl. Eines Tages allerdings – möge er sich nicht im Grab herumdrehen – passierte etwas für den Dummkopf Hicabi Bey völlig Unerwartetes: Einer der jungen Burschen und seine Frau verliebten sich heftig ineinander. Und dieser Bursche war Ruhan Bey. Natürlich wollte er die geliebte Frau aus diesem Elend befreien, doch Hicabi Bey, der von der Beziehung Wind bekam, drehte vor Zorn durch und warf den jungen Mann, nachdem er Gott weiß welche Art von physischer und psychischer Folter angewendet hatte, auf die Straße. Allem Anschein nach gelang es den beiden jungen Leuten, ihre Beziehung – oder nennen wir es besser: ihren Kontakt – trotz der Trennung aufrechtzuerhalten.
    Jahre später beschloss Necla Hanım, dem Ganzen ein Ende zu bereiten und sich mittels Selbstmord ins Jenseits zu befördern. Doch die Vorsehung erlaubte der unglücklichen Frau das Sterben nicht. Wer weiß, wie sehr sie ihr Schicksal verfluchte, als sie im Krankenhaus die Augen öffnete und feststellen musste, dass sie immer noch am Leben war. Der Einzige, der im Krankenhaus bei ihr war, war ihr älterer Sohn Şemi. Wie ein glücklicher Zufall es wollte, hatten Şemi Abis Gensequenzen ihm ein weniger dummes Großhirn beschert als seinem Bruder, weswegen er sehr wohl begriffen hatte, wes Geistes Kind sein Vater war. Er war zutiefst betrübt bei Necla Hanıms Anblick. Er wusste, dass sein teuflischer Vater seine Mutter garantiert niemals gehen lassen, ja sogar zu noch grässlicheren Mitteln greifen würde, aus Angst, seine Schweinereien könnten ans Licht kommen. Wahrscheinlich hatte seine Mutter ihm – wenn nicht schon früher, so doch im Krankenhaus – von der Jahre zurückliegenden Liebesgeschichte erzählt. Nach reiflicher Überlegung hatte Şemi Abi einen Plan zur Rettung seiner Mutter ausgeheckt. Ihr Arzt war ein Freund aus seiner ersten Einheit. Unter Rückgriff auf diese Freundschaft, die Şemi vielleicht mithilfe von etwas Barem intensivierte, gelang es ihm, einen falschen Totenschein ausgestellt zu bekommen. Danach musste er nur noch für ein Grab sorgen und die Kunde von einem
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