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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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Erregung. Um mit der fröhlichen Melodie, die ich zu pfeifen begonnen hatte, aufzuhören, bedurfte es der wütenden Ermahnung meiner Mutter. Der Herr Staatsanwalt wandte seinen strengen Blick nicht für eine Sekunde von meinem Gesicht, doch brachte er es auch nicht über sich, zu mir zu kommen, wohl weil er fürchtete, ich könnte einen Eklat provozieren. Zum Trotz erwiderte ich mit einem gehässigen Grinsen und heftete mich an die Beine meiner Mutter, damit er mich nicht vorzeitig in die Enge treiben könnte, um mir etwas zu entlocken. Mein Plan war, das Ende des Totengebets abzuwarten und, während alle ihre Grieß-Helva aßen, die Bombe platzen zu lassen. In meinem Kopf schwirrten jede Menge Szenarien herum, in welcher Reihenfolge ich die Ereignisse erzählen und mit welchen gesalbten Worten ich sie schmücken sollte, um den bestmöglichen Effekt zu erzielen.
    In dem Moment überbrachte uns die durchgeknallte Köchin die frohe Botschaft, dass die Grieß-Helva fertig sei, und unser Imam mit dem abstoßenden Gesicht sank in den Stuhl, der mitten im Zimmer aufgestellt worden war. Unser spiritueller Führer hatte bereits begonnen, sich nach vorne und hinten zu wiegen, als ein weiterer Gast hereinkam, mit schüchternen Schritten quer durch den Raum ging und sich neben den Krämer Yakup quetschte. Noch bevor ich den Kopf hob und dem unerwarteten Besucher ins Gesicht sah, ahnte ich, dass er alles durcheinanderbringen würde. Ich hatte nämlich halbwegs zu verstehen begonnen, wie die göttlichen Zahnrädchen funktionierten. Die Person, die trotz des armseligen beigefarbenen Anzugs vornehm wirkte und lange, schlanke Beine sowie ein nicht unübles Gesicht hatte, war niemand anderes als Ruhan Bey.
    Eine Weile versuchte ich, Ruhan Beys Anwesenheit zu ignorieren. Doch er verfügte über eine derart starke Ausstrahlung, dass sich mit seinem Betreten des Zimmers der Gemütszustand eines jeden merklich änderte. Als hätten auch die, die keine Ahnung von seiner Geschichte hatten, urplötzlich gespürt, dass durch ihn die Atmosphäre mit einer größeren Tiefe und Bedeutsamkeit angefüllt war als der ihren. Durch seine Anwesenheit waren alle, ich inklusive, von einem seltsamen Gefühl der Befangenheit ergriffen, sang der Imam das Totengebet inbrünstiger und gewannen seine Worte, deren Bedeutung er vielleicht selbst nicht kannte – so wie mein lieber Öztürk es formuliert hatte –, einen zusätzlichen Sinn; kamen die Tränen der Hexen vielleicht zum ersten Mal nach wer weiß wie vielen Jahren einer guten Tat gleich. Als das Gebet zu Ende war, wusste ich: Meine Show fiel ins Wasser.
    Nachdem die Helva ausgeteilt worden war, ging ich zu Onur Çalışkan und Metin Bilgin. Wie immer schüttelte der Kommissar mir freundlich die Hand und strich mir übers Haar. Das Gesicht des Herrn Staatsanwalts wiederum glich der Wand eines Gerichtssaals. »Du sollst uns etwas Wichtiges zu sagen haben«, meinte Onur Çalışkan.
    Ich nickte. »Sie hatten recht«, sagte ich mit Blick auf Metin Bey. »Ich habe gelogen.«
    »Und was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte Onur Çalışkan mit bebender Stimme.
    »Am Tag des Mordes war ich nachmittags mit meinen Freunden zum Fußballspielen auf der Farm. Dann kam Gazanfer mit seinen Hunden und hat uns das Match kaputt gemacht. Burhan und mich hat er nach Strich und Faden verprügelt.« Auf Metin Bilgins Lippen machte sich der Anflug eines Grinsens bemerkbar. Ich übersah das und fuhr fort. »Sie können die Kinder alle fragen. Na egal … Ich hatte geschworen, mich an Gazanfer zu rächen, und in der Nacht auf dem Revier dachte ich, das sei doch eine prima Gelegenheit.« Onur Çalışkans Enttäuschung war schon sehenswert. Metin Bilgin trug noch immer dieselbe nervtötende Teilnahmslosigkeit zur Schau. »Ich habe gelogen.«
    »Eigentlich lügst du jetzt!«, schnaubte der Staatsanwalt. »Am Telefon sagtest du, du hättest den Fall gelöst, und jetzt sagst du, du hättest gelogen.«
    »Ich habe wieder gelogen. Anders hätte ich Sie doch nicht dazu gebracht, hierher zu kommen.«
    »Dein Problem hättest du uns auch am Telefon sagen können. Dafür mussten wir nicht herkommen.«
    »Doch, das mussten Sie«, widersprach ich. »Das war nämlich nicht alles, was ich zu sagen hatte, und bei dem, was Sie jetzt hören, sollten Sie mir in die Augen sehen.«
    »Was du nicht sagst!«
    »Diese Drohung, die Sie gegen meinen Vater ausgestoßen hatten … Ich glaube, Sie haben nur geblufft, aber gesetzt den Fall, Sie
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