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Die Nacht Der Jaegerin

Die Nacht Der Jaegerin

Titel: Die Nacht Der Jaegerin
Autoren: Phil Rickman
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Im Sommer unter den Stanner Rocks
     
    Er hätte es wissen müssen. An diesem Morgen nämlich vibrierte das ganze Tal vor Unbehagen, obwohl strahlendes Hochsommerwetter herrschte.
    «Verdammt», sagte Jeremy Berrows zu Danny. «Hast du das gesehen?»
    Oben auf dem Felsmassiv Stanner Rocks ragten Steinhöcker aus dem Bewuchs wie verwitterte Wasserspeier aus einer alten Kirchenmauer oder wie uralte Schädel, die in der Erde braun geworden und halb in den Grund gesunken waren und aus deren Augenhöhlen struppige Bäume wucherten. Wenn man wollte, konnte man in den Felsen von der einen Seite aus einen ganzen Körper erkennen, der in Dannys Augen aussah wie die Überreste eines toten Riesen, der rücklings ins Dickicht gefallen war.
    Aber Jeremy sah nicht zu den Felsen hinauf – wahrscheinlich warf er den Stanner Rocks vor, ihm Mary Morson weggenommen zu haben, obwohl Danny fand, dass die Felsen Jeremy damit einen Gefallen getan hatten. Stattdessen starrte er zu den Tannen auf der anderen Seite des Tals hinüber, zu den dunklen Bäumen, die zu sagen schienen:
Hier fängt Wales an, mein Junge, also pass auf, dass du keinen Fehler machst.
    «Was?», sagte Danny.
    «Große schwarze Krähe. Im Schwebeflug.»
    «Echt?»
    «Is grade total niedrig dort drübergeflogen. Und dann ist sie umgedreht und nochmal drübergeflogen.»
    Schwachsinn
, dachte Danny. Man konnte sich total verrückt machen, wenn man in allem irgendein Vorzeichen sah, selbst wenn man Jeremy Berrows hieß, in dessen Adern Grundwasser floss und zu dem das Tal zeit seines Lebens gesprochen hatte.
    An diesem Morgen allerdings verstand Danny, was Jeremy meinte: Auch ohne Krähen schien der gesamte Ausblick nach Westen eine einzige Warnung vor Wales darzustellen, einen warnenden Zeigefinger direkt vor deiner Nase. Wenn man die Grenze nach Wales allerdings tatsächlich überquerte, verwandelte sich die Landschaft schnell in die sanften, heiteren, von Schafen abgegrasten Hügel, in denen Danny Thomas geboren und aufgewachsen war und wo er immer noch lebte.
    Wo er
immer noch
lebte. Verdammt, wie hatte das passieren können?
    Danny grinste leicht verzweifelt und rieb sich den Bart. Der Junge sah ihn an, aber Danny schüttelte bloß den Kopf und stapfte weiter talwärts über die taufeuchte Weide unter dem klaren Morgenhimmel. Er wusste nicht genau, auf welcher Seite der Grenze sie sich befanden, oder ob das überhaupt eine Rolle spielte. Er war Waliser, davon ging er jedenfalls aus, auch wenn seine Art zu reden weder von den
echten
Walisern als walisisch erkannt wurde noch von den Engländern, deren Land in Rufweite lag. Jedenfalls klang alles, was von beiden Seiten der Grenze so gerufen wurde, ziemlich genau so wie seine eigene Aussprache.
    Das alles konnte einen echt durcheinanderbringen: Wenn Danny aus der lieblicheren, englischer wirkenden Region unten im Radnor Valley stammte, das tatsächlich aber zu
Wales
gehörte, dann musste Jeremy, der unter den düsteren Tannen und den Felsenhöckern der Stanner Rocks lebte, eigentlich ...
    «Bist du eigentlich Engländer, Jeremy?»
    «Ich?» Jeremy warf Danny einen argwöhnischen Blick zu und klopfte sich automatisch auf den Oberschenkel, um seinen Hirtenhund Flag bei Fuß zu rufen. «Keine Ahnung. Ist das wichtig?»
    «Für manche Leute schon», sagte Danny, «hab ich gehört.»
    Echt, es war unheimlich kompliziert hier draußen. Zum Beispiel gehörte die kleine Stadt, die ungefähr einen Kilometer hinter ihnen lag, zu England, obwohl sie sich auf der walisischen Seite von Offa’s Dyke befand. Und trotzdem
fühlte
man sich dort wegen der schmalen Hauptstraße und der Abgeschlossenheit wie in Wales.
    Kington: eine
Anomalie.
    Das war Dannys aktuelles Lieblingswort. Die Naturforscher, die er im Pub traf, bezeichneten die Stanner Rocks so, von denen es hieß, sie seien eines der ältesten Felsmassive im ganzen Land.
Anomalie
bedeutete, dass merkwürdige Sachen passierten, dass oben auf den Felsen außergewöhnliche klimatische Vorgänge abliefen, was dazu führte, dass dort Pflanzen wuchsen, die es nur auf dem Plateau des Stanner gab und sonst nirgends. Die Leute aus der Gegend stiegen nur noch selten auf die Felsen hinauf, seit sie zum Naturschutzgebiet erklärt worden waren, das von der Landschaftsschutzbehörde überwacht wurde. Mittlerweile war dort oben kaum noch jemand außer Botanikern und ein paar Touristen mit Sondergenehmigung.
    Aber Mary Morson war eines Tages hinaufgegangen, hatte was mit einem der Botaniker
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