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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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nicht hinkriegte. Niemand war darüber sonderlich erstaunt. Die Lehrerin gab mir das von ihr angefertigte Beispielexemplar, um es meiner Mutter mitzubringen (ich denke, sie hatte das von Anfang an geplant), doch ich lehnte dieses Angebot mit aller Entschiedenheit ab. Die Lehrerin fühlte sich genötigt, diesen Umstand der gesamten Klasse mitzuteilen: »Kinder, euer Mitschüler wird seiner Mutter nichts schenken.« In dem Moment wollte ich nur noch sterben. Um die Angelegenheit nicht ausufern zu lassen, riss ich ihr das Ding aus der Hand. Ab da hielt die Schnepfe ihre Klappe.
    Ich informierte meine Eltern über das Wasserproblem, und sie wiederum schilderten der Frau Direktorin die Sachlage. Daraufhin verfügte sie, meine nachmittägliche Wasserration von einem halben Glas auf ein ganzes zu erhöhen. Die neue Regelung führte jedoch leider nur dazu, dass ich mich noch schlechter fühlte. Ich saß am Ende des Tischs in der Ecke und reichte einfach nicht an meine Vergünstigung heran. Während ich jämmerlich so dasaß, war die Lehrerin gezwungen, das Glas vor den Händen meiner gewitzten Freunde zu retten: »Junge, nimm doch dein Wasser.« Zu allem Überfluss gingen diese verdammten Idioten auch noch hin und erhöhten ohne ersichtlichen Grund meine Keksration. Jeder kriegte drei, ich fünf: »Junge, nimm doch deinen Teller!«
    Wie dem auch sei. All das ist nichts gegen den Schaden, den eine andere Begebenheit, die ich in jener Hölle erlebte, in meiner Seele anrichtete. In einer Ecke des Spielzimmers stand das Einzige, was mich je in der Schule interessierte: ein glänzender schwarzer Flügel. Freitags abends kam immer so ein seltsamer Wiedehopf, der sich einen Topf Gel über den Kopf gekippt hatte und stets mit demselben Scheißanzug herumlief, und gab Kindern, die darauf erpicht waren – will heißen, deren Familien es sich finanziell erlauben konnten –, zwei Stunden Klavierunterricht. Klar war das nichts für mich. Erstens: die Kursgebühr war zu hoch; zweitens: der Typ spielte miserabel. Dennoch verspürte ich den unbezähmbaren Wunsch, in die Tasten dieses herrlichen Instruments zu greifen. Irgendwie wurde die Vorstellung zu einer fixen Idee, und so stand ich eines Tages heimlich vom Mittagsschlaf auf und begab mich ins Spielzimmer. Ich schlich mich langsam ans Klavier und öffnete den Deckel der Tastatur. Vor Aufregung machte ich mir fast in die Hosen. Mein Herz klopfte heftig, meine Hände zitterten. Ich ließ meine Finger über die Tasten gleiten. Damit niemand von dem Krach aufwachte, wollte ich nur eine Taste anschlagen. Schwarz würde die Taste sein, oder weiß. Schwarz. Natürlich. Wie ein getretener Straßenhund wimmerte meine Seele im Zimmer »disssss«. Eine Träne löste sich aus meinem Auge. Dem linken. Da hörte ich ein Knacken und drehte mich um. Der fette Klassensprecher beobachtete mich mit einer sadistischen Freude, wie sie nur bei Kindern anzutreffen ist. Er fuchtelte mir mit einem seiner Wurstfinger entgegen: »Das sag ich der Lehrerin!« Er wollte, dass ich mir eine jämmerliche Lüge einfallen ließe, damit er mich noch mehr schikanieren konnte. Ich schubste den Fettsack und floh in die Toilette. Die Lehrerin sprach das Thema nicht an; ihren Blicken allerdings konnte ich entnehmen, dass sie Bescheid wusste. Ich schwor mir, nie wieder einen Fuß an diesen Ort zu setzen. Und von da an begann ich mit der Vorführung der bereits erwähnten Tobsuchtsanfälle.
    Meine Mutter schlug umgehend einen Wechsel der Vorschule vor. Sie wollte nicht, dass ich allein zu Hause bliebe, während sie und mein Vater arbeiteten. Aus unerfindlichem Grund hatte sie die seltsame Vorstellung, ich könnte alle in der Wohnung befindlichen Medikamente schlucken und mich umbringen. Wer würde so etwas Unsinniges tun? Wo man doch aus dem Fenster springen konnte? Aber so sind Mütter eben. Immer denken sie gleich das Allerschlimmste. Aus evolutionären Gründen. Ich werde das Thema nicht vertiefen. Mein Vater wiederum schien begriffen zu haben, dass auch eine andere Vorschule nichts an der Situation ändern würde, und verfocht die Idee, dass ich völlig problemlos allein zu Hause bleiben könnte. Wer weiß, vielleicht wollte er sich auch insgeheim die Gebühren sparen. Aber das nahm ich ihm überhaupt nicht übel. Mit wie wenig musste sich ein Beamter schon über Wasser halten? Schämen sollten sie sich, diese ekelhaften Ausbeuter, die die Hälfte seines Gehaltes einforderten, um sein Kind zu foltern. Sie und die, die
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