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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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dieses mickrige Gehalt für angemessen erachteten. Schließlich verkündete mein Vater seine Entscheidung, die das Ende der Diskussion und meine Rettung bedeutete: »Ich scheiße auf die Erfinder der Vorschule!«
    Ich kann sagen, dass die darauffolgenden zwei, drei Wochen, in denen mir zu Hause niemand um die Füße lief und die Nase in meine Angelegenheiten steckte, die schönste Zeit meines Lebens waren. Ich stand früh auf, frühstückte und las bis zum Mittagessen. Dostojewski, Oğuz Atay und zum Knabbern ein bisschen Nietzsche. (Das war ein Witz, denn der Schnauzbart ist ein harter Brocken. Schon faszinierend, wie Feigheit jemanden so kreativ machen kann!) An den Nachmittagen hing ich entweder auf der Straße mit meinen Freunden herum oder lag unter dem Diwan. So vergaß ich die Zeit.
    Dann kam die Katastrophe mit meinem fünften Geburtstag. Ich nahm es meinen Eltern zutiefst übel, dass sie daraus einen Festtag machten, während ich aus gegebenem Anlass in Trauer ging. Natürlich konnte ich sie verstehen. Sie wollten mich auf ihre Weise beglücken, aber hätten sie sich nicht ein wenig mehr Gedanken machen müssen? Wohl tausendmal hatte ich ihnen gesagt, wie sehr ich diese kleinbürgerlichen Gepflogenheiten verabscheute. Letzten Endes füllte sich unser Heim mit all den Verwandten, Nachbarn und Bekannten, deren Gesichter ich nicht sehen wollte. Alle brachten eine Menge Schrottsachen mit, die Geschenke sein sollten. Mir gefiel nur das von Gönül Teyze, einer Jugendfreundin meiner Mutter, die ihr Leben im Schreibzimmer einer Einberufungsstelle vergeudet hatte – ein Revolver der Marke Dallas Gold, der Plastikpatronen mit angemessener Wucht abfeuerte. Das mitgelieferte Fransenhalfter, der Cowboyhut und der Sheriffstern waren natürlich Firlefanz. Meine Mutter hatte halbherzig gemeint, ich könnte auch meine Freunde aus der Nachbarschaft einladen, aber ich gab niemandem Bescheid, denn ich wollte nicht, dass sie dieses Affentheater miterlebten.
    Die Einzige, über deren Anwesenheit ich mich überhaupt freuen konnte, war Alev Abla. Alev lebte mit ihrer Mutter im Nachbarblock in der angrenzenden Wohnung. So, wie es aussah, schien ihre Mutter Remziye Hanım, nachdem sie ihren Mann unter die Erde gebracht hatte, von allen guten Geistern verlassen. Ein Haufen hinfälliger Typen besuchte sie, um sich Djinns austreiben oder aus dem Kaffeesatz lesen zu lassen, oder für sonstigen Hokuspokus. Alev Abla war um die zwanzig. Sie studierte an der Fern-Uni. Betriebswirtschaft. Was immer sie einmal betreiben würde! Wahrscheinlich fühlte ich mich zu ihr hingezogen, weil sie wie ich ein Einzelkind war. Und vielleicht auch wegen der Sternschnuppen in ihren gequälten Augen. Manchmal sah ich sie, wenn sie sich auf ihrem Balkon um die Blumen kümmerte. Sie verteilte Zeitungspapier auf dem Boden und schüttete darauf einen Sack Erde. Unter Verwendung von allen möglichen Gartengeräten füllte sie die Erde in Töpfe und verteilte Blumensamen darin. Ich tat dann immer so, als käme ich zufällig auf den Balkon. Wir begannen zu plaudern. Sie las gern, aber meistens lausige Bücher. Immerzu erzählte sie mir blöde Märchen, die ich alle schon kannte, wie Schneewittchen oder Hänsel und Gretel. Stets hielt ich meinen Mund. Ich mochte es, sie von ihr zu hören. Nebenbei beobachtete ich, wie sie mit ihren schmalen Fingern den Blumensamen in den Töpfen vergrub. Schwamm drüber. Ich hasse Romantik. Vielleicht begab ich mich an meinem Geburtstag nicht in ihre Nähe, weil die Bedeutung und Wichtigkeit dieses besonderen Tages mich traurig stimmte, vielleicht auch, weil ich mich schämte, der Held dieser Narrenveranstaltung zu sein. Sie für ihren Teil blieb vielleicht eine halbe Stunde und verzog sich dann. Als wäre es anders gewesen, wenn ich mich um sie gekümmert hätte. Nachdem sie gegangen war, geriet ich vollends in Zorn, setzte mich in eine Ecke und schmollte. Ich dachte, dass ich meine Schwäche für Alev Abla recht erfolgreich verbergen würde, doch mein Vater, den ich für meine natürlichen Neigungen verantwortlich halte, schnallte die Sache anscheinend sofort. Er kam zu mir und meinte: »Tja, nächstes Jahr gehst du auch zur Schule, so wie Alev.« So ein Pfiffikus. Auf seine Art wollte er die Situation ausnutzen und mir die Schule schmackhaft machen. Als wäre ich so blöd und würde nicht bemerken, dass uns die Schule völlig voneinander entfernen würde.
    Ich kam schier um vor Langeweile, als der Vorgesetzte meines Vaters,
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