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Désirée

Désirée

Titel: Désirée
Autoren: Annemaire Selinko
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    Marseille, Anfang Germinal,
Jahr II. (Ende März 1794, nach
Mamas altmodischer Zeitrechnung)
    I ch glaube, eine Frau kann viel leichter bei einem Mann etwas durchsetzen, wenn sie einen runden Busen hat. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mir morgen vier Taschentücher in den Ausschnitt zu stopfen, um wirklich erwachsen auszusehen. In Wirklichkeit bin ich natürlich schon ganz erwachsen, aber das weiß nur ich, und man sieht es mir noch nicht richtig an.
    Letzten November wurde ich vierzehn Jahre alt, und Papa schenkte mir zum Geburtstag dieses schöne Tagebuch. Es ist natürlich schade, diese feinen weißen Seiten voll zu schreiben. Das Buch hat auch ein kleines Schloss, und ich kann es absperren. Nicht einmal meine Schwester Julie wird wissen, was darin steht. Es ist das letzte Geschenk von meinem guten Papa. Mein Papa war der Seidenhändler François Clary in Marseille, er ist vor zwei Monaten an Lungenentzündung gestorben. »Was soll ich denn in das Buch hineinschreiben?«, fragte ich ratlos, als ich es auf dem Geburtstagstisch fand. Papa lächelte und küsste mich auf die Stirn: »Die Geschichte der französischen Bürgerin Eugénie Désirée Clary«, sagte er und bekam plötzlich ein gerührtes Gesicht. Ich beginne heute Nacht meine zukünftige Geschichte aufzuschreiben, weil ich so aufgeregt bin, dass ich nicht einschlafen kann. Deshalb bin ich leise aus dem Bett gekrochen, hoffentlich wacht Julie, die im selben Zimmer schläft, nicht durch das Flackern der Kerze auf. Julie würde mir nämlich einen schrecklichen Krach machen. Und aufgeregt bin ich, weil ich morgen mit meiner Schwägerin Suzanne zum Volksrepräsentanten Albitte gehen soll, um ihn zu bitten, Etiennezu helfen. Etienne ist mein großer Bruder, und es geht um seinen Kopf. Vor zwei Tagen kam plötzlich die Polizei und verhaftete ihn. Wir wissen nicht, warum. Aber so etwas kann leicht in diesen Zeiten passieren, es ist ja noch nicht einmal fünf Jahre her, seitdem wir die große Revolution hatten, und manche Leute behaupten, sie sei noch gar nicht zu Ende. Jedenfalls werden jeden Tag viele Leute vor dem Rathaus guillotiniert, und es ist lebensgefährlich, mit Aristokraten verwandt zu sein. Aber wir sind Gott sei Dank nicht mit feinen Leuten verwandt. Papa hat sich selbst hinaufgearbeitet und den winzigen Kaufmannsladen seines Vaters in eines der größten Seidenwarengeschäfte von Marseille verwandelt. Und Papa war sehr froh über den Beginn der Revolution, obwohl er knapp vorher Hoflieferant geworden war und der Königin blauen Seidensamt schickte. Der Stoff ist nie bezahlt worden, sagt Etienne. Papa hatte feuchte Augen, als er uns das Flugblatt, in dem zum ersten Mal die Menschenrechte abgedruckt waren, vorgelesen hat.
    Seit Papas Tod führt Etienne das Geschäft. Nach Etiennes Verhaftung nahm mich unsere Köchin Marie, die früher meine Amme war, beiseite und sagte: »Eugénie, ich habe gehört, dass Albitte in die Stadt kommt! Deine Schwägerin muss zu ihm gehen und versuchen, Bürger Etienne Clary freizubekommen.« Marie weiß immer alles, was in der Stadt vorgeht. Beim Abendessen waren alle sehr traurig. Zwei Plätze waren leer. Papas Stuhl neben Mama und Etiennes neben Suzanne. Mama erlaubt nicht, dass sich jemand auf Papas Platz setzt. Ich dachte fortwährend an Albitte und drehte Brotkügelchen. Worauf Julie – sie ist nur vier Jahre älter als ich, aber sie will mich fortwährend bemuttern, und das macht mich manchmal ganz krank vor Wut –, worauf also Julie sofort sagte: »Eugénie, es ist ungezogen, Brotkügelchen zu drehen.« Da hörte ich auf undsagte: »Albitte ist in der Stadt!« – Es machte keinen Eindruck. Wenn ich etwas sage, macht es nie Eindruck. Deshalb wiederholte ich: »Albitte ist in der Stadt!« Endlich fragte Mama: »Wer ist Albitte, Eugénie?« Suzanne hörte gar nicht zu, sondern schluchzte in die Suppe.
    »Albitte ist der jakobinische Abgeordnete von Marseille«, sagte ich, stolz über mein Wissen. »Er bleibt eine Woche hier und hält sich tagsüber im Maison Commune auf. Und Suzanne muss morgen zu ihm gehen und ihn fragen, warum Etienne verhaftet worden ist. Und dann muss sie ihm erklären, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln kann.«
    Suzanne sah auf und schluchzte: »Aber er wird mich nicht empfangen!«
    »Ich glaube – ich glaube, es ist besser, wenn Suzanne unseren Advokaten bittet, mit Albitte zu sprechen«, meinte Mama zögernd. Ich muss mich oft über meine Familie ärgern, Mama
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