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Désirée

Désirée

Titel: Désirée
Autoren: Annemaire Selinko
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eiskalt und zitterte. Ich dagegen spürte kleine Schweißtropfen auf der Stirn und verfluchte die Taschentücher in meinem Ausschnitt, durch die mir nur noch heißer wurde. »Bitte, wir möchten zum Bürger Volksrepräsentanten Albitte«, sagte Suzanne leise, als wir vor dem jungen Mann standen.
    »Was?«, schrie er sie an. »Zum Bürger Volksrepräsentanten Albitte«, stammelte Suzanne noch einmal. »Das wollen alle hier im Zimmer. Haben Sie sich bereits angemeldet, Bürgerin?« Suzanne schüttelte den Kopf. »Wie meldet man sich an?«, fragte ich.
    »Man schreibt seinen Namen und den Zweck seines Besuches auf einen Zettel. Wenn man nicht schreiben kann, beauftragt man mich damit. Das kostet –« Sein Blick glitt schätzend über unsere Kleidung. »Wir können schreiben«, sagte Suzanne. »Drüben auf dem Fensterbrett finden die Bürgerinnen Papier und Gänsekiel«, sagte der Jakobinerjüngling, der mir wie der Erzengel am Eingang des Paradieses erschien.
    Wir schoben uns wieder durch die Menge und gelangten zum Fensterbrett. Suzanne füllte schnell einen Bogen aus. Namen? Bürgerinnen Suzanne und Bernardine Eugénie Désirée Clary. Zweck des Besuches? Wir starrten uns ratlos an. »Schreib die Wahrheit«, sagte ich. »Dann empfängt er uns nicht«, wisperte Suzanne. »Bevor er uns empfängt, erkundigt er sich sowieso über uns«, sagte ich, »es scheint nämlich hier nicht so einfach zu sein …« – »Von einfach ist gar keine Rede«, stöhnte Suzanne und schrieb: »Zweck des Besuches – Verhaftung des Bürgers Etienne Clary.« Wir drängten uns wieder zu unserem jakobinischen Erzengel durch. Der betrachtete flüchtig den Bogen, schnauzte: »Warten Sie«, und verschwand hinter der Tür. Er blieb – zumindest kam es mir so vor – endlos langverschwunden. Dann kehrte er zurück und sagte: »Sie dürfen warten. Der Bürger Volksrepräsentant wird Sie empfangen. Sie werden aufgerufen werden.«
    Kurz darauf öffnete sich die Tür, jemand gab dem Erzengel einen Bescheid, der Erzengel brüllte »Bürger Joseph Petit« in den Raum, und ich sah, dass sich ein alter Mann mit einem kleinen Mädchen von der Holzbank längs der Wand erhob. Schnell stieß ich Suzanne in die Richtung der beiden frei gewordenen Plätze. »Setzen wir uns, es wird noch stundenlang dauern, bis wir drankommen.« Unsere Lage hatte sich kolossal verbessert. Wir lehnten unseren Rücken an die Wand, machten die Augen zu und bewegten die Zehen in unseren Schuhen. Dann begann ich mich umzusehen und erkannte unseren Schuster, den alten Simon. Gleichzeitig fiel mir sein Sohn, der junge Simon mit den krummen Beinen ein. Wie tapfer diese krummen Beine damals marschiert sind. Damals vor eineinhalb Jahren sah ich jenen Aufzug, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. Unser Land wurde von allen Seiten von feindlichen Armeen bedrängt, das Ausland wollte nicht dulden, dass wir die Republik ausgerufen hatten. Es hieß, dass unser Heer kaum länger dieser Übermacht standhalten könnte. Eines Morgens erwachte ich, weil unter unseren Fenstern gesungen wurde. Ich sprang aus dem Bett und stürzte auf den Balkon hinaus – und da marschierten sie vorüber: die Freiwilligen von Marseille. Drei Kanonen von der Festung führten sie mit, sie wollten nicht mit leeren Händen beim Kriegsminister in Paris ankommen. Ich kannte viele von ihnen. Die beiden Neffen des Apothekers zogen mit und – mein Gott, sogar der krummbeinige Sohn des Schusters Simon versuchte, das Tempo der anderen durchzuhalten. Und war das nicht –? ja, natürlich, Léon, der Gehilfe aus unserem Geschäft, der gar nicht gefragt hatte, sondern einfach auf und davonzog! Und hinter ihm drei würdevolle junge Männer in Dunkelbraun; die Söhne des Bankiers Levi, die seit Einführung der Menschenrechte dieselben Bürgerrechte genießen wie alle anderen Franzosen und nun ihre Sonntagsröcke angelegt hatten, um für Frankreich in den Krieg zu ziehen. »Auf Wiedersehen, Monsieur Levi«, schrie ich, worauf sich alle drei Levis umwandten und winkten. Nach den Levis marschierten die Söhne unseres Fleischers und hinter ihnen die Arbeiter aus dem Hafenviertel in geschlossenen Reihen. Ich erkannte sie an den blauen Leinenhemden und den klappernden Holzpantoffeln. Und alle sangen »Allons enfants de la patrie …«, das neue Lied, das über Nacht berühmt geworden ist, und ich sang mit ihnen. Plötzlich stand Julie neben mir, und wir rissen die Kletterrosen ab, die sich am Balkon emporranken und warfen
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