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Désirée

Désirée

Titel: Désirée
Autoren: Annemaire Selinko
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musste auch an die Guillotine denken. Ich sehe sie so oft vor mir, wenn ich einschlafen soll, und dann bohre ich den Kopf in die Kissen, um die Erinnerung zu vertreiben. Die Erinnerung an das Beil und an den abgeschnittenen Kopf. Vor zwei Jahren nahm mich nämlich heimlich unsere Köchin Marie auf den Platz vor dem Rathaus mit. Wir drängten uns durch die Menge, die dicht um das Blutgerüst stand, ich wollte ja alles genau sehen, und ich presste die Zähne zusammen, weil sie so schrecklich aneinander schlugen, und das war mir peinlich. Der rot bemalte Karren brachte zwanzig Männer und Frauen zum Schafott. Alle hatten vornehme Kleider an, aber schmutzige Strohhalme klebten an den seidenen Hosen der Männer und den Spitzenärmeln der Damen. Ihre Hände waren mit Stricken auf dem Rücken zusammengeschnürt. Auf der Brettertribüne rund um die Guillotine sind Sägespäne aufgeschüttet, die morgens und am späten Nachmittag, immer gleichnach den Hinrichtungen, erneuert werden. Trotzdem bilden sie einen abscheulichen rotgelben Schlamm. Der ganze Rathausplatz riecht nach gestocktem Blut und Sägespänen. Die Guillotine ist wie der Karren rot angestrichen, aber die Farbe ist bereits recht abgeblättert, sie steht ja seit Jahren hier. An jenem Nachmittag kam zuerst ein junger Mann aus der Umgebung, der angeblich in geheimer Postverbindung mit dem feindlichen Ausland stand, an die Reihe. Als ihn der Scharfrichter auf das Podium zerrte, bewegte er die Lippen, ich glaube, er betete. Dann kniete er nieder, und ich machte die Augen zu und hörte das Beil herabfallen. Als ich die Augen wieder aufmachte, hielt der Scharfrichter einen Kopf in der Hand. Der Kopf hatte ein kalkweißes Gesicht und weit aufgerissene Augen, die mich anstarrten. Mir blieb das Herz stehen. Der Mund in dem kalkigen Gesicht war offen, als wollte er schreien. Der stumme Schrei hörte nicht auf. Die Leute rund um uns redeten wirr durcheinander, jemand schluchzte, und eine hohe Frauenstimme kicherte, dann schien der Lärm nur noch aus weiter Ferne zu mir zu dringen, mir wurde schwarz vor den Augen und – ja, ich musste mich übergeben. Dann war mir besser, ich begriff, dass man mich anschrie, weil ich jemandem die Schuhe schmutzig gemacht hatte, und ich hielt die Augen geschlossen, um den blutigen Kopf nicht mehr zu sehen. Marie schämte sich sehr wegen mir und zog mich aus der Menge, und ich hörte, dass man uns höhnische Worte nachrief. Und seit damals kann ich oft nicht einschlafen, weil ich an die toten Augen und den stummen Schrei denken muss.
    Als wir nach Hause kamen, weinte ich furchtbar. Papa legte den Arm um mich und sagte: »Frankreichs Volk hat jahrhundertelang in furchtbarem Leid gelebt. Und aus dem Leid der Unterdrückten stiegen zwei Flammen empor: die Flamme der Gerechtigkeit und die Flamme desHasses. Die des Hasses wird sich verzehren und in Strömen von Blut erstickt werden. Aber die andere Flamme – die heilige –, meine kleine Tochter, kann niemals wieder völlig ausgelöscht werden.«
    »Nicht wahr, die Menschenrechte können nie wieder ungültig werden, Papa?«, fragte ich. »Nein, ungültig können sie nicht werden. Aber abgeschafft, offen oder heimlich, und mit Füßen getreten. Jene jedoch, die sie mit Füßen treten, laden die größte Blutschuld der Geschichte auf sich. Wann immer und wo immer in späterer Zeit Menschen ihren Brüdern das Recht der Freiheit und Gleichheit nehmen – niemand wird von ihnen sagen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Meine kleine Tochter, seit der Verkündigung der Menschenrechte wissen sie es nämlich genau.«
    Während Papa das sagte, klang seine Stimme ganz anders als sonst. Es war wie – ja, wie ich mir eben die Stimme vom lieben Gott vorstelle. Je mehr Zeit seit jenem Gespräch vergeht, umso besser verstehe ich, was Papa eigentlich meinte. Und heute Nacht fühle ich mich ihm ganz besonders nahe. Ich habe große Angst um Etienne und auch Angst vor dem Besuch im Maison Commune. Nachts hat man immer größere Angst als bei Tag. Wenn ich nur wüsste, ob ich eine lustige oder traurige Geschichte haben werde. Ich möchte schrecklich gern irgendetwas Besonderes erleben. Aber zuerst möchte ich einen Bräutigam für Julie finden. Und vor allem muss Etienne aus dem Gefängnis herausgefischt werden.
    Gute Nacht, Papa; ich habe also angefangen, meine Geschichte aufzuschreiben.

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    24 Stunden später (Es hat sich
schrecklich viel ereignet!)
    I ch bin der Schandfleck unserer
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