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Désirée

Désirée

Titel: Désirée
Autoren: Annemaire Selinko
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Familie!
    Außerdem hat sich so viel zugetragen, dass ich gar nicht weiß, wie ich alles aufschreiben soll. Erstens: Etienne ist wieder frei und sitzt unten im Speisezimmer mit Mama, Suzanne und Julie und isst so viel, als ob er vier Wochen nur von Wasser und Brot gelebt hätte. Und dabei war er doch nur drei Tage eingesperrt! Zweitens: Ich habe einen jungen Mann mit einem sehr interessanten Profil und dem unmöglichen Namen Bunopat, Bonapart oder so ähnlich kennen gelernt. Drittens: Die ganze Familie ist böse auf mich, nennt mich den Schandfleck der Familie und hat mich schlafen geschickt. Unten feiern sie Etiennes Heimkehr, und ich, die doch zuerst auf die Idee kam, zu Albitte zu gehen, werde nur ausgezankt, und ich habe keinen Menschen, mit dem ich über die kommenden Ereignisse und diesen Bürger Buonapar – unmöglicher Name, ich werde ihn mir nie merken – also, über diesen neuen jungen Mann sprechen kann. Aber mein lieber, guter Papa hat wohl vorausgeahnt, wie einsam man sich fühlen muss, wenn man von seiner Umwelt nicht verstanden wird und hat mir deshalb mein Tagebuch geschenkt.
    Der heutige Tag begann mit einem Krach nach dem anderen. Julie sagte mir, dass Mama befohlen habe, das langweilige graue Kleid anzuziehen und natürlich ein Spitzenfichu eng um den Hals zu legen. Ich versuchte, mich gegen das Fichu zu wehren. Julies Stimme wurde ganz still vor Protest: »Glaubst du, du kannst mit einem tiefen Ausschnitt wie eine Dahergelaufene – so eine aus dem Hafenviertel, meine ich – also, du glaubst, wir lassen dich ohne Fichu bei den Behörden erscheinen?« Als Julie dasSchlafzimmer verließ, borgte ich mir schnell ihr Rouge-Töpfchen aus. (Ich habe zu meinem vierzehnten Geburtstag eigenes Rouge bekommen, aber es ist ein so kindliches Rosenrot, dass ich es hasse. Ich finde, dass mir Julies »Cerise« viel besser passt.) Ich tupfte es vorsichtig auf und dachte daran, wie schwer es die großen Damen in Versailles gehabt hatten, die dreizehn verschiedene Schattierungen Rot übereinander auftragen mussten, um den richtigen Effekt zu erzielen. Das habe ich nämlich in einem Zeitungsartikel über die Witwe Capet, unsere hingerichtete Königin, gelesen.
    »Mein Rouge! Wie oft soll ich dir sagen, dass du nicht meine Sachen benutzen sollst, ohne vorher zu fragen!«, schrie Julie, die wieder ins Schlafzimmer kam. Ich puderte schnell über das ganze Gesicht, und dann machte ich den Zeigefinger nass und strich über meine Augenbrauen und Augenlider – es sieht viel hübscher aus, wenn sie etwas glänzen. Julie saß auf dem Bett und sah mir kritisch zu. Nun begann ich, die Papilloten aus den Haaren zu wickeln. Aber sie verfilzten sich in meinen Locken – ich habe von Natur aus so ekelhaft widerspenstiges Ringelhaar, dass ich große Mühe habe, sie in glatte, bis zur Schulter hängende Korkzieher zu verwandeln.
    Von draußen kam Mamas feste Stimme: »Ist das Kind endlich fertig, Julie? Wir müssen essen, damit Suzanne und Eugénie um zwei im Maison Commune sein können!« Ich beeilte mich und wurde dadurch noch ungeschickter und brachte überhaupt keine Frisur zustande. »Julie – kannst du mir nicht helfen?« Ehre, wem Ehre gebührt: Julie hat Feenhände. In fünf Minuten hatte sie mich frisiert. »Ich habe in einer Gazette eine Zeichnung von der jungen Marquise de Fontenay gesehen«, sagte ich. »Sie hat kurze Locken und trägt das Haar in die Stirn gebürstet. Mir würden kurze Haare auch gut passen …«
    »Die hat sich nur die Haare abgeschnitten, damit jeder sieht, dass sie in der letzten Sekunde vor der Guillotine gerettet worden ist. Als der Abgeordnete Tallien sie im Gefängnis zum ersten Mal sah, hatte sie sicherlich noch ihre große Frisur.« Und wie eine alte Tante. »Aber ich würde dir abraten, Zeitungsartikel über die Fontenay zu lesen, Eugénie.«
    »Du brauchst nicht so überlegen und weise zu tun, Julie, ich bin kein Kind mehr und weiß ganz genau, warum und wozu Tallien die schöne Fontenay befreit hat. Und deshalb –«
    »Du bist unmöglich, Eugénie! Wer erzählt dir solche Sachen? Marie in der Küche?«
    »Julie – wo bleibt denn das Kind?« Mamas Stimme klang ärgerlich. Ich ordnete scheinbar mein Fichu, während ich schnell vier Taschentücher in den Ausschnitt stopfte. Zwei rechts und zwei links. »Zieh die Taschentücher wieder heraus, so darfst du nicht geben!«, kam es von Julie. Aber ich tat, als ob ich nicht hörte, und riss aufgeregt ein Schubfach nach dem anderen auf, um meine
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