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Désirée

Désirée

Titel: Désirée
Autoren: Annemaire Selinko
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würde nicht zulassen, dass auch nur ein Glas Marmelade bei uns gekocht wird, ohne zumindest einmal selbst im Topf herumzurühren. Aber lebenswichtige Dinge überlässt sie unserem altersschwachen Advokaten! Ich glaube, viele Erwachsene sind so.
    »Man muss selbst mit Albitte sprechen«, sagte ich. »Und Suzanne als Etiennes Frau sollte hingehen. Wenn du Angst hast, Suzanne, werde ich es versuchen und von Albitte verlangen, dass mein großer Bruder freigelassen wird.«
    »Untersteh dich, ins Maison Commune zu gehen!«, sagte Mama sofort. Dann nahm sie wieder den Suppenlöffel.
    »Mama, ich finde, dass –«
    »Ich möchte nicht weiter über die Angelegenheit sprechen«, sagte Mama. Suzanne schluchzte wieder in die Suppe.
    Nach dem Essen lief ich in die Mansarde hinauf, um zusehen, ob Persson zu Hause war. Persson lernt nämlich abends bei mir Französisch. Er hat das liebste Pferdegesicht, das man sich vorstellen kann. Er ist sehr hoch gewachsen, schrecklich mager und der einzige blonde Mann, den ich kenne. Dafür ist er auch ein Schwede. Weiß der Himmel, wo Schweden liegt, irgendwo in der Nähe vom Nordpol glaube ich. Persson hat es mir zwar einmal auf einer Landkarte gezeigt, aber ich habe es vergessen. Perssons Papa hat ein Seidengeschäft in Stockholm, das in Verbindung mit unserer Firma steht. Und so kam der junge Persson auf ein Jahr nach Marseille, um bei Papa zu volontieren. Seidenhandel kann man nämlich nur in Marseille lernen, behaupten alle. Eines Tages erschien Persson bei uns. Zuerst konnten wir ihn gar nicht verstehen, obwohl er behauptete, mit uns Französisch zu sprechen. Es klang nämlich nicht wie Französisch. Mama räumte ihm ein Zimmer in der Mansarde ein und sagte, Persson solle in diesen unruhigen Zeiten bei uns wohnen.
    Ich fand Persson zu Hause, er ist ja ein solider junger Mann, und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Meistens muss er mir aus den Zeitungen vorlesen, und ich verbessere seine Aussprache. Und wie so oft holte ich das alte Flugblatt mit den Menschenrechten, das Papa seinerzeit nach Hause gebracht hatte, und wir hörten uns gegenseitig ab, weil wir den Wortlaut auswendig lernen wollen. Perssons Pferdegesicht wurde ganz ernst dabei, und er sagte, dass er mich beneide, weil ich zu jener Nation gehöre, die der Welt diese großen Gedanken geschenkt hat. »Freiheit – Gleichheit – Volkssouveränität«, deklamierte er neben mir. Und dann sagte er: »Es ist viel Blut geflossen, um diese neuen Gesetze durchzuführen. Und so viel unschuldiges Blut. Es darf nicht vergeblich gewesen sein, Mademoiselle.«
    Persson ist ja Ausländer und sagt immer »MadameClary« zu Mama und »Mademoiselle Eugénie« zu mir, obwohl das verboten ist, wir sind einfach die »Bürgerinnen Clary«.
    Plötzlich erschien Julie im Wohnzimmer. »Bitte komm einen Augenblick, Eugénie!«, sagte sie und führte mich in Suzannes Zimmer.
    Suzanne kauerte auf dem Sofa und nippte Portwein. Portwein stärkt angeblich, aber ich bekomme nie ein Glas, weil sich junge Mädchen noch nicht stärken müssen, sagt Mama. Mama saß neben Suzanne, und ich konnte ihr ansehen, dass sie versuchte, energisch zu sein. In solchen Augenblicken wirkt sie besonders zart und hilflos, sie zieht die schmalen Schultern zusammen, und ihr Gesicht ist ganz klein unter dem schwarzen Witwenhäubchen, das sie seit zwei Monaten trägt. Meine arme Mama erinnert viel mehr an ein Waisenkind als an eine Witwe.
    »Wir haben beschlossen, dass Suzanne morgen versuchen soll, zum Volksrepräsentanten Albitte durchzudringen. Und –« Sie räusperte sich: »Und du wirst sie begleiten, Eugénie!«
    »Ich fürchte mich, allein zu gehen. All die vielen Menschen …«, murmelte Suzanne. Ich konstatierte, dass der Portwein sie nicht stärkte, sondern schläfrig machte. Und ich wunderte mich, warum ich mitgehen sollte und nicht Julie.
    »Suzanne will Etienne zuliebe diesen Weg auf sich nehmen, und es ist ein Trost für sie, dich, mein liebes Kind, an ihrer Seite zu wissen«, sagte Mama.
    »Du hast dort natürlich den Mund zu halten und Suzanne reden zu lassen«, fügte Julie hastig hinzu. Ich war froh, dass Suzanne zu Albitte gehen wollte. Der beste Weg. Der Einzige, meiner Ansicht nach. Aber da man mich immer als Kind behandelt, schwieg ich. »Der morgige Tag wird für uns alle große Aufregungen bringen«, sagteMama und erhob sich. »Wir wollen deshalb zeitig schlafen gehen.« Ich lief ins Wohnzimmer zurück und sagte Persson, dass ich schon schlafen gehen müsse. Er
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