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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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eins
sein und nichtsein
    Mit fünf Jahren befindet sich der Mensch auf der Höhe seiner Reife, danach beginnt er zu faulen.
    Ich, Alper Kamu, wurde vor einigen Monaten fünf. Während mein Geburtstag näher rückte, stand ich die meiste Zeit am Fenster, um die Menschen draußen zu beobachten. Ihr Leben verbrachten sie damit, zu beschleunigen, zu verlangsamen, alle möglichen Töne von sich zu geben und durch die Gegend zu gucken. Es machte mich krank, daran zu denken, dass ich eines Tages so werden würde wie sie. Leider gab es da keinen Ausweg. Die Zeit war grausam und ich alterte schnell.
    Das einzig Positive an meinem Leben war, dass ich nun nicht mehr in die Vorschule gehen musste. Besser als nichts. Eigentlich hatte ich meinen Eltern lange zu erklären versucht, dass die Vorschule kein Ort für mich war. Mit allen logischen Argumenten. Leider erwies sich das als vollkommen nutzlos. Ich musste alle Register ziehen, damit sie meine Nöte verstanden, etwa schweißgebadet im Schlaf herumstrampeln oder kleine Tobsuchtsanfälle vortäuschen, wenn der Schulbus vor der Tür stand. Was für eine Blamage. Es war einfach beschämend.
    Bei meinem Eintritt in die Vorschule hatte ich eigentlich weder positive noch negative Vorurteile über diese Einrichtung. Aber leider legte ich einen unglückseligen Start hin. Nachdem ich der Frau Direktorin, meiner Klassenlehrerin und allen Kindern die Hand geschüttelt hatte, musste ich mich übergeben. Meine Mutter war beschämt, doch unsere Klassenlehrerin zeigte Verständnis. Sie erläuterte meiner Mutter, dass man meine leichte Anspannung am ersten Tag als normal auffassen müsse und solche Dinge öfter vorkämen et cetera. Hätte sie bloß ihr Haar nicht zu diesem seltsamen Knoten gebunden. Vielleicht hätte auch ich ihr dann geglaubt.
    So, wie es anfängt, geht es meist weiter. Ich konnte mich mit der Vorschule einfach nicht anfreunden. In der Regel begann der Tag damit, dass unsere Lehrerin uns blödsinnige Dinge beibrachte wie etwa, was im Sommer gedeiht und was im Winter gekocht wird. Das Schlimme war, dass die Frau sich der Unterrichtsmethode der Schülermitarbeit verschrieben hatte und unsere Meinung zu all ihren stinklangweiligen Themen erwartete. Aus Angst, sie könnte mich etwas fragen, ließ ich die ganze Zeit den Kopf hängen. Dann gab es da noch das Singen. Unser Repertoire umfasste einige Werke, die von den miserabelsten Komponisten für erziehbare kleine Schwachsinnige geschrieben worden waren, und die Begeisterung meiner Klassenkameraden übertraf, wenn ich ehrlich sein will, ihr musikalisches Talent um Längen. Da ich natürlich stets ablehnte, mich an dieser Kakophonie zu beteiligen, rief die Lehrerin in den Liedpausen meinen Namen, um mich nach ihrer Façon zur Kunst zu motivieren. Vor Scham versank ich jedes Mal im Erdboden. Von mir, einem glühenden Schostakowitsch-Fan, wurde erwartet, dass ich mich bei »Alle meine Entchen« zerriss. Dank meiner asozialen Gesinnung und meiner Grimassen, die die gelegentlichen Sturmgewitter in mir zum Ausdruck brachten, gelangte die Lehrerin zu der Überzeugung, ich sei geistesgestört, und ließ von mir ab.
    Auch die zwei Stunden Mittagsruhe kamen Höllenqualen gleich. Man hatte mich in die mittlere Etage eines Dreistockbetts platziert. Dort konnte ich kein Auge zutun. Fünf Monate lang starrte ich die grässlichen Fratzen an, die ich und nur ich auf der Spanplatte über mir ausgemacht hatte. Außerdem verdurstete ich beinahe. Man gab uns am Vormittag nämlich kein Wasser, damit wir nicht ins Bett machten. Alle schliefen furzend vor sich hin, während ich lebendig begraben in dieser Gruft Not litt. Wenn die Lehrerin zwei Stunden später ihr Glöckchen schwenkend ins Zimmer kam, streckte ich mich und tat so, als wachte ich gerade auf.
    Nun kam die beliebteste Aktivität an die Reihe, das Spielen. Sobald sich die Tür zum Spielzimmer öffnete, stürmten die Kinder den Raum und fielen über die in der Tat herrlich bunten Bauklötze, Bälle, Autos und jede Menge andere Spielsachen her. Während sie alle Dampf abließen, setzte ich mich mit ein paar dämlichen Mädchen an den Basteltisch. Die Lehrerin bemühte sich, uns, die stillen Temperamente, in der Kunst des Kettenbastelns aus Kalenderblättern zu unterweisen. Wenn Muttertag nahte, wurde die gesamte Klasse für zwei, drei Tage zur Bastelstunde verpflichtet. Jeder sollte für seine Mutter eine Halskette aus Kalenderblättern basteln. Letzten Endes war ich der Einzige, der das
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