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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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als morgen würde ich mich bei der Brotbäckerei in unserem Viertel um einen Job bewerben. Sollte das nicht klappen, würde ich meine Karriere beim Krämer Yakup beginnen. »Haben Sie sich in der Zeit nie mit Necla Hanım getroffen?«
    Ruhan Bey schüttelte den Kopf. »Zwanzig Jahre lang haben wir uns heimlich geschrieben. Ich hatte mir eingeredet, dass das bis ans Ende unserer Tage so weitergehen würde. Aber eines Tages erhielt ich von Necla diesen Brief, der alles veränderte. Die Liebe meines Lebens schickte mir die frohe Botschaft, dass jener Moment, auf den wir all die Jahre gewartet hatten, gekommen sei und unserem Zusammensein kein Hindernis mehr im Wege stünde. Freudig reiste ich in die Türkei, in dem Glauben, Hicabi Bey sei gestorben. Natürlich erfuhr ich nach meiner Ankunft, dass nichts so war, wie ich es erwartet hatte. Trotzdem war ich glücklich mit ihr. Drei Jahre lang lebten wir, wo es uns gerade gefiel.«
    »Und die Bäckerei?«
    »Die Konditorei«, korrigierte mich Ruhan Bey. Und mit zum Himmel gewandten Augen fügte er voller Stolz hinzu: »Wir sind mittlerweile ein Unternehmen. In Unternehmen haben Einzelpersonen keine Bedeutung mehr.« Mit diesem perversen Satz waren wir vor dem Gartentor der Villa angekommen. Der geschäftstüchtige Rodin blieb am Eingang stehen und musterte mich noch einmal von oben bis unten. »Und du? Wie hast du es herausgefunden?«
    »Ich hab es mir aus dem Gerede von diesem und jenem zusammengereimt«, antwortete ich mit einem Schulterzucken. »Aber ohne die Hilfe eines Freundes wäre ich niemals auf die Lösung gekommen.«
    »Necla Hanım hat nicht mehr lange zu leben. Ich würde dich bitten, diese Dinge wenigstens noch ein Weilchen für dich zu behalten. Ich verspreche dir: Nach dem Tod meiner Liebsten werde ich zur Polizei gehen und alles erzählen.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ich ihn. »Ich werde niemandem etwas sagen.«
    »Und was ist mit deinem Freund?«
    »Öztürk? Vor dem brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Er ist vor Jahren gestorben«, sagte ich lachend. Als ich Ruhan Beys bangen Blick sah, fügte ich hinzu: »Das heißt, er lebt in meinem Kopf.«
    Ich weiß nicht, was er danach dachte, aber er legte seine Hand auf meine Schulter, schluckte schwer und öffnete dann das Gartentor, um zu seiner mit dem Tod ringenden Geliebten zu gehen. Als er aus meinem Blick verschwunden war, begab ich mich auf den Heimweg. Ich hatte den verrückten Ertan verraten. Meine einzige Hoffnung war, dass Necla Hanım sich baldigst von dieser Welt verabschieden und Ruhan Bey Wort halten würde. Den verrückten Ertan würde die Angelegenheit zusätzlich einige Monate Erniedrigung und ein paar Elektroschockbehandlungen kosten. Ich schämte mich vor mir selbst. Aber ich würde mich nicht besser fühlen, wenn ich Metin Bilgin alles erzählte. Der Grund dafür war weder mein Mitleid mit der auf dem Sterbebett liegenden Necla Hanım noch meine Bewunderung für Ruhan Bey, von dem ich mittlerweile wusste, dass er nicht im Entferntesten die Weisheit besaß, die ich ihm zugeschrieben hatte. Was diese beiden ganz normalen armen Seelen zu so etwas Besonderem machte, war ihre Liebe, die sie trotzig lebten und am Leben erhielten. Vor diesem Traum musste man Respekt haben. Oder vielleicht gefiel mir auch bloß der Gedanke; ich bin mir nicht sicher. Wie auch immer – war das Leben nicht in jedem Fall eine Geschichte mit einem bösen Ende?

vierzehn
glücklich und einvernehmlich
    Sosehr meine Mutter geneigt war, die Rücknahme der Versetzung bei ihren Vorgesetzten und insbesondere Erdoğan Bey als Großherzigkeit zu verbuchen, so ahnte mein Vater sehr wohl, dass an der Sache etwas faul war. Deshalb stieß er nach ein paar doppelten Rakı ein »Erdoğan, der Doppelarsch« hervor und umarmte mich danach mit feuchten Augen. Hätte ich nicht um Mutullah Amcas absolute Verschwiegenheit gewusst, hätte ich auf den Gedanken kommen können, dass er meinem Vater etwas gesteckt hatte. Ich weiß auch nicht; der Stadt Istanbul würden wir zumindest noch ein Weilchen erhalten bleiben.
    Angesichts dieser Situation musste ich umgehend damit beginnen, mir meinen Platz, der mir innerhalb der Hierarchie unter den Strolchen des Viertels zustand, zurückzuerobern. Nach dem, was mir zuletzt zu Ohren gekommen war, hatte unsere Armee in der Feldschlacht gegen die Walderdbeeren-Straße eine schwere Niederlage erlitten. Postwendend mussten Götterbaumzweige geschnitzt, Kronkorken von Sprudelflaschen zu
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