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Zaubersommer in Friday Harbor

Zaubersommer in Friday Harbor

Titel: Zaubersommer in Friday Harbor
Autoren: Lisa Kleypas
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Kapitel 1

    ls Lucy
Marinn sieben Jahre alt war, geschahen drei Dinge: Ihre kleine Schwester Alice
wurde krank,
sie selbst durfte ihr erstes Naturlehre-Referat ausarbeiten, und sie fand
heraus, dass es Wunder gab. Genauer gesagt, dass sie selbst Wunder bewirken
konnte. Danach sollte sie nie wieder vergessen, dass zwischen dem Normalen und
dem Außergewöhnlichen nur ein winziger Schritt liegt, nicht mehr als ein Atemzug
oder ein Herzschlag.
    Allerdings
ist eine solche Erkenntnis nicht dazu angetan, jemanden zu einem
selbstbewussten Draufgänger zu machen. Zumindest galt das für Lucy. Sie wurde
eher vorsichtig, zurückhaltend und verschlossen. Denn wenn jemand Wunder bewirken
kann, macht ihn das anders, zumal wenn er keine Kontrolle über seine besondere
Fähigkeit hat. Und schon einem siebenjährigen Kind ist nur zu klar, dass es
nicht erstrebenswert ist, auf die falsche Seite der Trennlinie zwischen normal
und anders zu geraten.
    Ein Problem
ließ sich allerdings nicht lösen: So gut es ihr auch gelang, ihr Geheimnis zu
bewahren – die bloße Tatsache, ein Geheimnis hüten zu müssen, reichte, um sie
von allen anderen abzusondern.
    Sie war
sich nie sicher, warum sich diese Wunder ereigneten. Und sie kam nie dahinter,
welche Folge von Ereignissen zum ersten Mal dazu führte, dass sie ein Wunder
bewirkte. Aber sie meinte zu wissen, dass alles an dem Morgen begann, an dem
Alice mit steifem Nacken, Fieber und hellrotem Ausschlag aufwachte.
    Sobald
Lucys Mutter entdeckte, wie Alice aussah, rief sie in Panik dem Vater zu, er
solle den Arzt rufen. Lucy saß derweil im Nachthemd am Küchentisch, verängstigt
durch den Aufruhr im Haus, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sah, wie
ihr Vater den Telefonhörer so hastig auf die Gabel warf, dass er wieder
herunterfiel.
    „Zieh dir
deine Schuhe an, Lucy. Beeil dich.” Die Stimme ihres Vaters, der sonst immer
die Ruhe selbst war, brach beim letzten Wort. Er war kreidebleich.
    „Was ist los?”
    „Wir
bringen Alice ins Krankenhaus.”
    „Muss ich
auch mit?”
    „Nein, du
bleibst heute bei Mrs Geiszler.”
    Bei der
Erwähnung der Nachbarin, die immer schimpfte, wenn Lucy mit dem Fahrrad über
den Rasen vor ihrem Haus fuhr, protestierte sie: „Nein, das will ich nicht. Ich
finde sie unheimlich.”
    „Nicht
jetzt, Lucy.” Der Blick, den ihr Vater ihr zuwarf, erstickte jeden
weiteren Protest im Keim.
    Sie liefen
zum Auto, und ihre Mutter stieg hinten ein. Sie hielt Alice im Arm, als wäre
sie ein Baby. Die Töne, die ihre kleine Schwester von sich gab, erschreckten
Lucy so sehr, dass sie sich die Ohren zuhielt. Sie machte sich möglichst klein.
Die Kunststoffbezüge der Autositze klebten an ihren nackten Beinen. Nachdem
ihre Eltern sie bei Mrs Geiszler abgeliefert hatten, fuhren sie so eilig
davon, dass die Reifen des Kleintransporters schwarze Spuren auf der Einfahrt
hinterließen.
    Mrs
Geiszlers Gesicht legte sich in mürrische Falten, als sie Lucy ermahnte, nichts
anzufassen. Das Haus stand voller Antiquitäten. Ein leicht muffiger und doch
angenehmer Geruch nach alten Büchern und der Zitronenduft einer Möbelpolitur
hingen in der Luft. Es war so still wie in einer Kirche, kein Fernseher, der
im Hintergrund lief, keine Musik, keine Stimmen, kein Telefonklingeln.
    Lucy saß
regungslos auf dem mit Brokatstoff bezogenen Sofa und starrte ein Teeservice
an, das sorgfältig auf dem Couchtisch arrangiert war. Das Geschirr war aus
einem Glas hergestellt, wie Lucy es noch nie gesehen hatte. Jede Tasse und jede
Untertasse war mit goldenen Schnörkeln und Blumen bemalt und schimmerte in
irisierenden Farben, als seien Regenbogen darin gefangen. Fasziniert davon,
wie die Farben sich mit jedem Blickwinkel
zu ändern schienen, kniete Lucy sich auf den Boden und neigte den Kopf mal
nach links, mal nach rechts.
    Mrs
Geiszler trat in die Tür und lachte leise auf. Ihr Lachen klang so ähnlich wie
das Knistern von Kandiszucker, wenn man heißen Tee darüber gießt. „Das ist
böhmisches Glas aus Tschechien und schon seit über hundert Jahren in
Familienbesitz.”
    „Wie haben
sie die Regenbogen hineinbekommen?”, fragte Lucy ehrfürchtig.
    „Sie haben
Metalle und Farben in das geschmolzene Glas gemischt.”
    Diese
Offenbarung erstaunte Lucy. „Wie schmilzt man Glas?”
    Aber Mrs
Geiszler hatte keine Lust zu reden. „Kinder stellen viel zu viele Fragen”,
murrte sie und ging zurück in die Küche.
    Schon bald kannte Lucy das Wort für die
Krankheit ihrer fünfjährigen
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