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Zaubersommer in Friday Harbor

Zaubersommer in Friday Harbor

Titel: Zaubersommer in Friday Harbor
Autoren: Lisa Kleypas
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Schwester: Meningitis. Und sie erfuhr auch, was
es bedeutete. Wenn Alice wieder nach Hause kam, würde sie sehr schwach und
müde sein, und Lucy musste ein braves Mädchen sein, helfen, ihre Schwester zu
pflegen, und durfte keinen Unsinn anstellen. Außerdem sollte sie nicht mit
Alice streiten oder sie irgendwie aufregen. „Jetzt nicht”, lautete die
Antwort, die Lucy am häufigsten von ihren Eltern zu hören bekam.
    Der lange
ruhige Sommer erwies sich als trostlose Abkehr von der üblichen Routine. Es gab
keine Spielnachmittage mit Freunden, keine Zeltlager, keine Ausflüge. Die
Krankheit machte Alice zum Mittelpunkt des Familienuniversums, um den alle
anderen wie instabile Planeten in ängstlichen Umlaufbahnen kreisten.
    In den
Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus sammelten sich Unmengen von
Spielzeug und neuen Büchern in Alices Zimmer. Sie durfte beim Essen aufstehen
und um den Tisch herumlaufen und wurde nie aufgefordert, Bitte oder Danke zu
sagen. Alice war nie zufrieden, weder mit dem größten Stück vom Kuchen noch
damit, länger aufbleiben zu dürfen als die
anderen Kinder. So etwas wie ‚zu viel’ gab es nicht für ein Mädchen, das
ohnehin schon viel zu viel hatte.
    Die Marinns
lebten in Seattle, im Stadtteil Ballard, in dem ursprünglich vor allem
skandinavische Einwanderer gelebt und auf den Lachsfangbooten und in den
Fischfabriken gearbeitet hatten. Obwohl Ballard im Laufe der Zeit gewachsen war
und sich weiterentwickelt hatte, sodass die Skandinavier längst nicht mehr die
größte Bevölkerungsgruppe bildeten, war das skandinavische Erbe immer noch
allgegenwärtig. Lucys Mutter kochte nach Rezepten ihrer skandinavischen
Vorfahren: Graved Lachs – kalt mit Salz, Zucker und Dill gebeizter Lachs. Svinemorbrad
med Svedsker – mit Ingwer-Backpflaumen gefüllter Schweinerollbraten. Krumkake –
knusprige Kardamom-Waffeln, die über den Stiel eines Holzlöffels zu perfekten
Waffeltüten geformt wurden. Lucy half ihrer Mutter gern in der Küche, vor allem
weil Alice sich nicht fürs Kochen interessierte und deshalb nie dabei störte.
    Der Sommer
ging, der Herbst kam, die Schule fing wieder an, und die Situation zu Hause
blieb unverändert. Alice ging es wieder gut, und doch hielt sich die Familie
immer noch an die Kegeln, die während ihrer Krankheit gegolten hatten: Reg sie
nicht auf. Wenn sie etwas will, lass sie.
    Als Lucy
sich deshalb beklagte, fuhr ihre Mutter sie so heftig an wie nie zuvor. „Du
solltest dich für deine Eifersucht schämen! Deine Schwester wäre beinah
gestorben. Sie hatte schreckliche Schmerzen. Du hast sehr, sehr großes Glück,
dass du das nicht durchmachen musstest.”
    Noch Tage
danach wurde Lucy von Schuldgefühlen gequält. Sie kamen immer wieder hoch wie
Fieberschübe. Bevor ihre Mutter sie so angefahren hatte, war Lucy gar nicht
klar gewesen, was an ihr nagte. Jetzt wusste sie es: Eifersucht. Und obwohl
sie keine Ahnung hatte, wie sie dieses Gefühl loswerden sollte, war ihr klar,
dass sie niemals darüber reden durfte.
    In der
Zwischenzeit konnte Lucy nur hoffen und warten, lass alles wieder so wurde wie
früher. Aber das geschah nicht.
    Und obwohl
ihre Mutter behauptete, ihre beiden Töchter gleichermaßen zu lieben, nur auf
unterschiedliche Weise, schien es Lucy, als liebe sie Alice doch nicht nur
anders, sondern eben mehr.
    Lucy betete
ihre Mutter an. Sie hatte immer tolle Ideen, wie man sich an Regentagen
beschäftigen konnte, und sie hatte nie etwas dagegen, wenn Lucy mit ihren
hochhackigen Schuhen feine Dame spielen wollte. Hinter der Ausgelassenheit
ihrer Mutter schien sich jedoch eine geheimnisvolle Traurigkeit zu verbergen.
Hin und wieder ertappte Lucy sie dabei, dass sie irgendwo saß und verloren ins
Leere starrte.
    Manchmal
schlich Lucy sich am frühen Morgen ins Elternschlafzimmer und kroch zu ihrer
Mutter unter die Decke. Dann kuschelten sie miteinander, bis Lucys nackte Füße
wieder warm waren. Ihr Vater ärgerte sich jedes Mal, wenn er Lucy im Ehebett
entdeckte, und er grummelte sie an, sie solle in ihr Zimmer verschwinden. „Nur
noch ein Weilchen”, murmelte ihre Mutter dann und schlang ihre Arme fest
um Lucy. „Ich liebe es, den Tag so zu beginnen.” Und Lucy kuschelte sich
noch dichter an sie.
    Doch wenn
es Lucy nicht gelang, ihre Mutter zufriedenzustellen, erlebte sie immer wieder
Rückschläge. Zum Beispiel, wenn die Lehrerin ihr einen Tadel mitgab, weil Lucy
sich während des Unterrichts unterhalten hatte. Oder wenn sie eine
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