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Mondsplitter

Mondsplitter

Titel: Mondsplitter
Autoren: Jack McDevitt
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Kapitel Eins

Totale Finsternis
Montag, 8. April 2024
     
     
1.
     
     
Kreuzfahrtschiff Merrivale, Ostpazifik, 5 Uhr 21 (9 Uhr 21 Ostküsten-Sommerzeit)
     
    Die Merrivale war unterwegs nach Honolulu. Vier Tage, nachdem sie Los Angeles verlassen hatte, setzte die Sonnenfinsternis ein. Nur wenige Passagiere standen auf, um sie mitzuerleben. Horace Brickmann allerdings, der eine Menge Geld für diese Kreuzfahrt ausgegeben hatte, wollte Amy beeindrucken und als Mann mit breiten wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen dastehen. Ja, hatte er ihr am Abend zuvor gesagt, als sie neben den Rettungsbooten standen, dem gleichmäßigen Trommeln der Schiffsmotoren lauschten und zusahen, wie die Bugwelle in der Dunkelheit verlief, eine totale Finsternis. Möchte sie keinesfalls versäumen. Um ehrlich zu sein, bin ich deshalb auf diese Fahrt gegangen. Und als sie darauf hinwies, daß die Finsternis auch in weiten Gebieten der Vereinigten Staaten sichtbar sein würde, versetzte er aalglatt, daß es nicht dasselbe war.
    Sie deutete an, daß sie das Ereignis ebenfalls gern miterleben würde. Amys Schönheit im Sternenlicht brachte sein Blut in Wallung und rief ihm seine Zwanziger wieder ins Bewußtsein, die in seiner Erinnerung eine Zeit der Romantik und der Leidenschaften waren. Horace hatte den Eindruck, daß er selbst die diversen Beziehungen seiner Jugend beendet hatte, sehr zur Verzweiflung der Frauen; daß er in diesen jungen Jahren noch nicht für eine ernsthafte Bindung bereit gewesen war. Trotzdem erlebte er zuzeiten, wie er nachts wach wurde und der einen oder anderen seiner Verflossenen nachtrauerte. Gelegentlich fragte er sich, wo sie heute waren und wie es ihnen ging.
    Eine merkwürdige Morgendämmerung hielt Sonne und Mond gemeinsam in kalter, grauer Umarmung. Das Meer war rauh geworden, und Horace saß auf seinem Stuhl, trank heißen Kaffee und fragte sich, was Amy aufhielt. Er zog sich den Wollpullover über den Bauch hinunter und erinnerte sich daran, daß es gefährlich war, den Blick direkt auf das Schauspiel zu richten. Die meisten der anderen Frühaufsteher hatten Decken mitgebracht, aber Horace wollte eine schneidige Figur machen, und eine Decke hätte einfach nicht zu dem gewünschten Image gepaßt.
    Zu seiner Bestürzung tauchte vor ihm ein redseliger Bankier auf, den er tags zuvor kennengelernt hatte, begrüßte ihn mit einer Munterkeit, die früh morgens immer ärgerlich wirkt, und setzte sich in einen Liegestuhl neben ihm. »Wundervolles Erlebnis, das«, meinte der Bankier und blickte ungefähr in Richtung der Sonnenfinsternis, während er eine zusammengefaltete Ausgabe des Wall Street Journals aus einer Tasche seines meerblauen Blazers zog. Er versuchte, im grauen Licht die Zeitung zu lesen, gab aber wieder auf und senkte das Blatt auf den Schoß.
    Daraufhin plauderte er über Waren, Kabrios und Gewinnspannen bei Börsenkursen. Horace’ Blick schweifte über die fast leeren Decks. Ein Mann in mittleren Jahren stand an der Reling und betrachtete die Sonnenfinsternis durch eine Sonnenbrille. Ein Steward kam lässig heranspaziert und bot ihm eine der Sichthilfen an, die schon auf dem Schiff verteilt worden waren. Horace war zu weit entfernt, um das Gespräch zu verstehen, aber er sah den verärgerten Ausdruck das Passagiers. Nichtsdestoweniger nahm dieser das Sichtglas entgegen, wartete, bis der Steward sich abgewandt hatte, steckte es in die Tasche und blickte wieder in die Sonne. Der Bankier plapperte weiter, voller Sorge, die Bundesregierung könnte den Primärzins erneut anheben.
    Der Wind frischte jetzt auf.
    Der Steward näherte sich Horace und dem Bankier und hielt ihnen die Sichtgläser hin. »Sie sollten lieber nicht direkt in die Sonne blicken, Gentlemen«, sagte er. Horace nahm eins an. Es bestand aus einem blauen Plastikrohr von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser mit einer Scheibe Aluminiumfolie an einem Ende. »Richten Sie es auf die Sonnenfinsternis, Sir«, empfahl der Steward, »und es projiziert das Bild der Sonne auf die Scheibe. Sie können dann den Vorgang völlig unbesorgt verfolgen.« Das Rohr war mit der Seitenansicht des Schiffes und dessen Namen verziert. Horace bedankte sich.
    Amy hatte sich inzwischen um zwanzig Minuten verspätet. Sie mußte sich allerdings um eine achtjährige Tochter kümmern, so daß jede Verabredung mit ihr ein gewisses Maß an Unsicherheit mit sich brachte.
    Auf einmal merkte Horace, daß ihm der Bankier eine Frage gestellt hatte. »Tut mir
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