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Mondsplitter

Mondsplitter

Titel: Mondsplitter
Autoren: Jack McDevitt
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in den Sinn. Er wartete auf den Todesstoß, getröstet nur von dem Wissen, daß er sein Bestes getan hatte.
    Mit achtundvierzig Stunden war seine Präsidentschaft die kürzeste aller Zeiten und stellte locker selbst William Henry Harrisons einunddreißig Tage in den Schatten. Er fragte sich, ob er nicht obendrein womöglich der letzte US-Präsident war. Er dachte über diese traurige Möglichkeit nach, als sein Funktelefon trillerte. Es war ein bemerkenswert alltägliches Geräusch, kühl und profan inmitten des Chaos. Er zog den Apparat aus der Tasche. »Haskell«, sagte er, beeindruckt davon, wie gut seine Stimme klang.
    »Herr Präsident.« Es war Feinberg. »Meinen Glückwunsch! Wir haben es geschafft! Er ist wieder auf dem Weg hinaus.«
    Charlie spürte, wie sein Puls pochte. »Sind Sie sicher?«
    »Ja, ich bin sicher.«
    »Gott sei Dank«, sagte Charlie.
    »Es wird eine Zeitlang dauern, den neuen Orbit zu analysieren. Wir müssen bestimmen, ob und in welchem Maß der Possum eine Gefahr bleibt.«
    »Aber er kommt nicht heute herunter?«
    »Nein, Herr Präsident. Ich kann Ihnen versichern, daß er nicht heute herunterkommt.«
    Charlie schaltete ab, schloß die Augen und gestattete sich, den Augenblick zu genießen. Er war schweißnaß und überglücklich. Und er spürte auf einmal, daß er ausgehungert war.
    Rachels Stimme meldete sich. »Gute Show, Herr Präsident«, sagte sie.
    Minuten später sprach Charlie zu einem weltweiten Publikum und übermittelte ihm die Nachricht. Die Welt begann auf althergebrachte Art zu feiern: Kirchenglocken läuteten, Trommeln schlugen, Feuerwerk explodierte, Politiker hielten Reden. In diesem Augenblick hätte Charles L. Haskell zum Weltpräsidenten gewählt werden können, hätte ein solches Amt existiert. Er wußte, daß seine Popularität ihn in jedem Fall ins Weiße Haus bringen würde. Ihm war auch klar, daß der Beifall nur bis zur ersten Rezession Bestand haben würde.
    Aber dieser Gedanke war des Helden der Stunde unwürdig.
    Vorn auf dem Flugdeck hatte Rachels Funkkonsole aufgeleuchtet. Die ganze Weltbevölkerung wollte mit ihm reden.
    Der erste Anruf, den er entgegennahm, kam von Evelyn.

 
EPILOG

Dienstag, 15. April 2025
     
     
Das neue Weiße Haus, Eßzimmer des Präsidenten
     
    An dem Abendessen hatten bedeutende Persönlichkeiten aus aller Welt teilgenommen, um den ersten Jahrestag des Ereignisses zu feiern, das viele heute die Geburt des Weltraumzeitalters nannten, das Präsident Haskell jedoch gern als lange verspätete Geburt der Menschheitsfamilie betrachtete. Gemeinsam hatte man sich ein Jahr alte Videoaufnahmen von jubelnden Menschenmassen in Paris und Shanghai, in Jerusalem und Kansas City angesehen, und vom Possum, der, gefolgt von einem Feuerschweif, seine Bahn über den Himmel von Florida zog und schließlich aus dem Blickfeld der Menschen verschwand.
    Nicht für immer natürlich. Sie hatten eine sechsjährige Gnadenfrist. Was bedeutete, daß die Nationen der Welt keine andere Wahl hatten, als Projekt Skybolt zum Abschluß zu führen.
    Die First Lady hatte es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, die Errichtung einer Gedenkstätte zu koordinieren, gewidmet den Menschen, die bei dem gemeinsamen Unternehmen ihr Leben gelassen hatten: den Flugbesatzungen der Kopenhagen, der Rom, der Berlin, der Christopher Talley, sowie Bigfoot Caparatti und Tony Casaway.
    Eine neue Welt war aus der Katastrophe hervorgegangen. Los Angeles existierte nicht mehr, anscheinend für immer. Als ›vorübergehend‹ bezeichneten die Geologen den See, der in den Wüstenregionen des mittleren Kaliforniens zwischen den Küstengebirgen und den östlichen Bergrücken entstanden war, aber sie sprachen dabei von Jahrtausenden. Städte wuchsen bereits an seinen Ufern empor.
    Niemand blieb ohne Narbe zurück. Die Belastung der nationalen Haushalte durch die Verwüstungen zwang die politischen Führer zu koordinierten Anstrengungen, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Streitkräfte schienen zumindest für den Augenblick ihre althergebrachte Funktion verloren zu haben. In den Tagen nach dem Erscheinen des Possums schien niemand bereit, Waffen gegen seine Nachbarn zu erheben. Die Völker der Welt hatten gegen ein gemeinsames Unglück zusammengestanden, und womöglich hatte sich daraus ein neues Band zwischen ihnen entwickelt, ein Band, das nationale und religiöse Identität überstieg, das eine gemeinsame Verwundbarkeit anerkannte. Selbst in Jerusalem hatte man, so schien es, endlich
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