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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen
Autoren: Deborah Crombie
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sehen.
    Das Haus blieb hinter ihm zurück, während die Hecken und Bäume, die den schmalen Weg säumten, mit gespenstischen Armen nach ihm zu greifen schienen. Duncan manövrierte den Wagen um die Biegungen und Windungen, mindestens ebenso sehr von seiner Erinnerung geleitet wie von
dem, was er tatsächlich sehen konnte. Nach einer Weile wurde das Gelände flacher, der Wald ging in Weideland über, und in der Ferne sah er ein Licht flackern. Vorsichtig lenkte er den Wagen über die letzten paar Meter des von tiefen Spurrinnen zerfurchten Weges und hielt hinter einem weißen Lieferwagen an. Jetzt konnte er die Umrisse des alten Viehstalls erkennen. Das Licht kam eindeutig aus den offenen Türen des Gebäudes. Doch als er ausstieg, wurde die Fahrertür des Lieferwagens von innen geöffnet, und seine Schwester sprang heraus.
    »Jules.« Er zog sie an sich, spürte ihre schmächtigen Schultern unter der gefütterten Jacke, und einen Moment lang entspannte sie sich in seinen Armen. Dann löste sie sich von ihm, stellte bewusst eine Distanz zwischen ihnen her. Ihr Gesicht war ein verschwommener weißer Fleck, eingerahmt von dunklen Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten.
    »Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte.«
    Darauf hätte es eine naheliegende Antwort gegeben, aber Kincaid biss sich auf die Zunge – er würde kein Urteil fällen, solange er nicht gesehen hatte, was sie ihm zeigen wollte. »Was tust du hier im Auto?«, fragte er stattdessen. »War dir kalt?« Er wischte sich die Schneeflocken von den Wangen und aus den Augen.
    Juliet schüttelte den Kopf. »Nein. Ja. Aber das ist es nicht. Ich konnte nicht da drinbleiben. Nicht, solange …« Sie deutete in Richtung des Stalls. »Am besten, du kommst mit und siehst es dir selber an. Du kannst mir sagen, dass ich nicht verrückt bin.« Sie wandte sich von ihm ab und setzte die Füße vorsichtig zwischen die matschigen Spurrinnen, als sie auf das Licht zuging. Er folgte ihr, und beim Anblick der Jeans und der schweren Schuhe, die sie zu ihrer gefütterten Jacke trug,
konnte er nur staunen über die Verwandlung, die seine Schwester durchgemacht hatte, seit er sie zuletzt gesehen hatte.
    Seine Mutter hatte ihm natürlich schon erzählt, dass sie ihren Job als Büroleiterin in der Investmentfirma ihres Mannes aufgegeben und sich als Bauunternehmerin selbstständig gemacht hatte, aber so richtig hatte er sich die Veränderung, die damit einhergegangen war, nicht vorstellen können.
    Juliet betrat das Gebäude und blieb gleich neben der Tür stehen. Kincaid folgte ihr und sah sich um. Das Licht kam von einer batteriebetriebenen Arbeitslampe, die auf dem Lehmboden lag. Er hob sie auf und vertrieb damit die Schatten aus der oberen Hälfte des Raums. In die aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Wand zum Kanal hin waren Fensterrahmen eingesetzt worden, und Duncan wusste, dass der Blick unter besseren äußeren Umständen atemberaubend sein würde. Auch im Raum selbst sah er ein Rahmenwerk aus Balken, die offenbar eine vorläufige Aufteilung in Zimmer markierten. Und wenige Schritte vor der rückwärtigen Wand lag eine Spitzhacke auf der Erde, als hätte sie jemand achtlos fallen lassen.
    Er sah den Streifen Mörtel in der dunklen Ziegelmauer, mit einem gezackten Loch in der Mitte – offenbar das Werk des Pickels. Und da war noch etwas anderes – war das Stoff? Er trat näher und hob die Lampe hoch, sodass der ganze Bereich hell angestrahlt war. Vorsichtig streckte er einen Finger aus. Und dann – trotz der Kälte und des Windes, der durch den Raum wirbelte – stieg ihm der allzu vertraute Geruch der Verwesung in die Nase.
    »Ist es ein Baby?«, fragte Juliet. In der frostigen Luft klang ihre Stimme seltsam dünn.
    »Sieht so aus.« Kincaid trat zurück und versenkte die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Er hätte sich keine Gedanken darüber machen müssen, dass seine Schwester nicht sofort
die Polizei gerufen hatte. »Ich fürchte, es liegt schon eine ganze Weile hier.«
    »Es ist – es war kein Neugeborenes …« Sie brach ab und sah ihn erschrocken an, als sei ihr plötzlich eingefallen, dass das Thema für ihn schmerzlich sein könnte.
    Er beugte sich vor, um den kleinen Körper noch einmal in Augenschein zu nehmen. »Nein, das glaube ich nicht. Noch kein Jahr alt, würde ich von der Größe her schätzen, aber ich bin ja weiß Gott kein Experte. Den Rechtsmediziner, der hier eine
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