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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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da. Blassrosa Blüten rekelten sich, als würden sie gerade aufwachen, während andere noch fest in ihren Knospen vor sich hinschlummerten. Man hatte das Gefühl, als würden sie sich urplötzlich öffnen und wie ein Feuerwerk sprühen, wenn man sie nur lange genug ansah. Die Blätter waren goldbraun, genau wie Megans Haar. Ihr Teint war ebenso blassrosa wie die Blüten, und wenn die Sonne auf sie schien, wirkte sie beinahe unsichtbar, abgesehen von der Uniform natürlich. Sie stand da und sah sich den Baum an.
    Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie mich an.
    »Ist er nicht schön?«
    Ja, das war er, besonders vor dem Hintergrund des mattblauen Himmels. Ich freute mich schon darauf, ihn zu malen. Über den Blüten war der Kondensstreifen eines Flugzeugs zu sehen. Dann erblickte ich Mr   Baker, der über die Straße auf uns zukam.
    »Hier sind wir!« Amy winkte. Sie liebte Mr   Baker, obwohl er behaart war wie ein Affe. Er hatte sogar Haare an den Fingern. Sie hoffte, dass sie eines Tages, wenn sie viel, viel älter war, vielleicht sechzehn wie die anderen Mädchen, mit ihm verlobt werden würde. Amy war seit einer Ewigkeit in Mr   Baker verliebt. Schon mit sechs Jahren hatte sie sich gewünscht, beim Mittagessen neben ihm sitzen zu dürfen.
    »Ah!«, sagte er und betrachtete den Baum. »Na, Mädchen? Was für eine wahre Pracht, nicht?«
    Er trat neben mich, stellte einen Fuß auf die niedrige Mauer und richtete seine grauen Augen auf das Blattwerk über uns. Seine schwarzen Schuhe hatten zahllose kleine Löcher, und eine Socke war heruntergerutscht, so dass ich seine Wade sehen konnte. Sein Schienbein war von langen, dünnen schwarzen Haaren übersät, die wie Spinnenbeine aussahen.
    »Ein echtes Naturwunder!«, verkündete er, fast den Tränen nahe. Ich sah mich vorsichtig um, aber Gott sei Dank waren keine normalen Menschen in der Nähe, die seinen peinlichen Gefühlsausbruch mitbekommen hätten.
    »Lernt diesen Baum kennen, Mädchen. Lasst euch nichts entgehen, nicht das kleinste Detail. Würdigt die Geschenke des Absoluten! Seht euch genau an, wie die Äste wachsen! Wo entspringen sie? Wie sehen ihre Enden aus? Woher kommen die Blüten? Wie viele sind es? Findet seine Mitte. Verfolgt, wohin er sich krümmt und windet. Bedenkt seine Proportionen! Merkt euch alles ganz genau! Verschmelzt mit ihm! Macht seine Geheimnisse ausfindig, und vergesst sie nicht!«
    Er legte einen Finger an die Nase und lächelte. »Wo sind Kate und Joanna?«
    »Da vorn um die Ecke«, antwortete ich, woraufhin er seinen Fuß von der Mauer nahm und sich auf den Weg machte. Amy und ich sahen ihm hinterher. Auch seine Bewegungen hatten etwas von einem Affen – die Arme hingen an seinem Körper herab, während er die Straße entlangtrottete.
    »Ich komme wieder!«, rief er uns zu.
    Wir betrachteten den Baum. Megan zog einen Ast zu sich herab, brach einen Zweig ab und steckte ihn sich ins Haar. Amy hielt die Augen geschlossen, wohl um sich den Baum genau einzuprägen. Ich stand auf und zog einen niedrigen Ast zu mir hinunter, um mir die Blüten genauer ansehen zu können. Fünf symmetrisch um die dunkelrosa Mitte angeordnete Blätter: ganz akkurat, wunderbar filigran. Das Absolute hatte wirklich an alles gedacht und nicht die kleinste Einzelheit ausgelassen.
    Eine Zeit lang saßen wir schweigend da und betrachteten den Baum.
    Schließlich wandte ich mich Amy zu. »Wenn du das Absolute wärst«, sagte ich. »Was hättest du wohl vergessen, was glaubst du?«
    »Was?«, fragte Megan. »Sie ist das Absolute.«
    »Schon gut«, beschwichtigte ich. »Ich habe Gott gemeint, so wie ihn sich normale Leute vorstellen. Als etwas, das nicht in allem wohnt, sondern außen ist.«
    Wieder zog Megan einen Ast herunter und vergrub ihre Nase in einer Blüte.
    »Also, wenn du Gott wärst«, fuhr ich fort. »Würde dir irgendwas einfallen, was du bei der Schöpfung vergessen hast?«
    Nachdenklich blickte Amy gen Himmel. Es gefiel mir, ihr dabei zuzusehen – es war, als wolle sie ihre Gedanken mit einem Blinzeln ihrer großen blauen Augen einfangen. Sie drehte das Ende ihres langen, perfekt geflochtenen Zopfs zwischen den Fingern hin und her. Ihr Haar war weißblond und glänzte wie die Nylonmähne einer Puppe. Amy war hochintelligent. Ich war clever und hatte eine schnelle Auffassungsgabe, doch mit Amy würde ich es nie aufnehmen können. Manchmal übertraf sie sogar unsere Lehrer.
    »Den freien Willen«, erwiderte sie schließlich.
    Mir war nicht ganz
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