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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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Sophies eleganten dunkelbraunen Füßen, gefolgt von Megans vertrauten, leicht gespreizten Zehen. O nein! Ich hatte gehofft, dass sie sich im inneren Kreis hinter mir befand.
    Megan war der einzige Mensch auf der Welt, der mich zum Lachen bringen konnte, wenn er mich nur ansah. Es war eine Frage des Timings, wer Mrs   Gentle zugewandt sein würde, wenn sich unsere Wege kreuzten. Ich merkte, wie wir beide unsere Schritte beschleunigten, doch dann hatte ich Amy vor mir, die sich im Schneckentempo bewegte, ganz darauf konzentriert, ihre Schritte zu perfektionieren. Verdammt! Damit wäre ich diejenige, die Mrs   Gentle gegenüberstand.
    Ich hielt den Blick eisern auf den Boden gerichtet, als Megan auf mich zukam, einen Schritt zurücktrat und ihre Zehen kreisen ließ. Einen Moment lang ging ich aufs Ganze und berührte Megans Fuß mit meinem großen Zeh, als wir aufeinander zutraten. Ich wusste, dass sie kurz davor war loszuprusten, konnte mir jedoch einen Blick auf ihr Gesicht nicht verkneifen. Da sie mit dem Rücken zu Mrs   Gentle stand, war sie auf der sicheren Seite. Sie schnitt eine Idioten-Grimmasse, schielte, wölbte die Oberlippe mit der Zunge vor und gab einen nur für mich hörbaren Spastikerlaut von sich, als sie auf mich zutanzte.
    Die Kunst, mein Lachen zu unterdrücken, hatte ich noch nie beherrscht. So übel die Folgen auch sein mochten, erschienen sie mir in der Wonne des Moments stets unbedeutend. Und diesmal war es doppelt lustig wegen des dämlichen Tanzschritts; jedenfalls wusste ich, dass Megan gleich wieder vor mir auftauchen und die nächste Fratze schneiden würde.
    Ich spürte, wie meine Schultern zu beben begannen und ich unkontrolliert mit dem Kopf wackelte.
    »Was ist denn so komisch, Caroline?« Als ich die Lider hob, sah ich Mrs   Gentles Hände. Sie spielte mit dem Tafelschwamm, warf ihn von einer Hand in die andere.
    Ich gab mir alle Mühe, das Grinsen zu unterdrücken. Ich dachte an tote Babys und daran, mehrere Leben als Schmeißfliege verbringen zu müssen.
    Ich machte den nächsten Schritt.
    »Hör auf zu tanzen, wenn ich mit dir rede!«
    Ich hielt inne. Jemand tanzte um mich herum.
    »Irgendetwas amüsiert dich offenbar. Was ist denn so lustig?«
    Sie trat hinter dem Pult hervor und ging mit in die Hüften gestützten Händen um den äußeren Kreis herum zum Kamin. Ihre Nippel zeichneten sich wie die Spitzen von Stacheldraht unter der Bluse ab.
    »Hierher, Caroline!«
    Als ich mir den Weg durch die Tanzenden bahnte, stieß ich mit Catherine zusammen.
    »Glaubst du nicht, Miss Fowler hat Besseres zu tun, als sich mit albernen Gören herumzuschlagen?«
    Auf diese Frage gab es keine richtige Antwort. Ich biss mir auf die Unterlippe, wie immer, wenn ich nicht wusste, was ich tun sollte.
    Zu allem Überfluss stand Mrs   Gentle genau an der Stelle, wo die Vase umgefallen war. Ein kleines Rinnsal floss in Richtung ihres nackten Fußes.
    »Was ist denn das?«, stieß sie hervor. Ihre Goldfischaugen traten aus den Höhlen, als sie den Blick wieder auf mich richtete. »Wer hat das getan?«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Du sagst mir sofort, wer das war!«
    Ich schwieg.
    »Dann gehe ich davon aus, dass du es warst. Du gehst nach unten, und zwar schnurstracks!«
    Das Herz schlug mir bis zum Hals.
    »Nein! Bitte nicht!«
    »Schluss jetzt, Caroline. Du gehst runter zu Miss Fowler, und zwar sofort!«
    Mit dem Gesicht zur Wand stand ich in der Ecke von Miss Fowlers Büro. Über zwei Stunden waren vergangen, und allmählich war mir flau vor Hunger. Vedische Mathematik hatte ich bereits verpasst, und die Sanskritstunde war auch fast vorbei. Sanskrit war mir egal, aber vedische Mathematik mochte ich, weil man dort jede Menge Rechentricks lernte. Das vedische Volk hatte die Mathematik Tausende von Jahren vor den Ägyptern entwickelt. Immerhin waren sie auch diejenigen gewesen, die die Null erfunden hatten.
    Ich hörte die leisen Schritte von sechzig schweigenden Mädchen, die in den Speisesaal gingen. Das Kratzen von Miss Fowlers Schreibfeder setzte einen Augenblick lang aus, als mein Magen ein neidisches Knurren von sich gab. Ich hörte, wie sie die Feder in das Tintenfass tauchte, gefolgt von einem anderen Kratzen, als sie die überschüssige Tinte am Rand abstreifte. Kurz darauf wechselte sie ihr Schreibgerät und griff nach ihrer Sanskrit-Feder – Schreiben war eine Form der Verehrung und jedes Utensil außer Feder und Tinte reinster Frevel. Ich hörte, wie sie schwungvoll Worte zu Papier
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