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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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klar, was sie meinte. Ich wusste, dass »eigenwillig« etwas Schlechtes war – Miss Fowler bezichtigte mich andauernd, eigenwillig zu sein –, aber mit etwas Gutem hatte ich das Wort »Wille« bislang nicht in Verbindung gebracht.
    »Was ist ›freier Wille‹?«, fragte Megan.
    »Das Beste von allem«, erwiderte Amy. »Es bedeutet, dass man denken kann, was immer einem gerade durch den Kopf geht. Man muss nicht mal an Gott glauben, wenn man nicht will.«
    »Wirklich?«, fragte Megan erstaunt. »Gibt es denn Menschen, die nicht an Gott glauben?« Amy hatte nicht nur einen Zwillingsbruder, Marcus, mit dem sie über alle möglichen persönlichen Dinge reden konnte, sondern auch einen Onkel, der Schimpfwörter benutzte und nicht in der Organisation war. Er spielte Gitarre und sang Lieder von den Beatles. Sie wusste ihre Titel und auch sonst alles über die Band. Seine Freundin hatte Amy eine wunderschöne Haarspange geschenkt, die schimmerte, wenn man sie ins Licht hielt, doch Miss Fowler hatte sie umgehend konfisziert. Miss Fowler mochte keine Sachen, die glitzerten.
    »Glaubt dein Onkel an Gott?«, fragte ich neugierig – wir alle brannten darauf, Informationen von der Welt da draußen zu bekommen.
    »Nein.«
    »Und wieso erlauben sie dir, ihn zu sehen?«
    »Wir fahren sowieso fast nie zu ihm. Er und mein Dad zanken sich jedes Mal.«
    »Wenn er nicht an Gott glaubt, woran dann?«, fragte ich gespannt.
    »An gar nichts.«
    »An nichts? Man kann nicht an nichts glauben.«
    Megan und ich lachten.
    »Und ob!«
    »Wie kann man nicht an Gott glauben?« Megan strich sich mit einer Blüte über die Oberlippe. Ich war froh, dass sie fragte, weil ich genau dasselbe dachte, aber nicht wie ein Baby klingen wollte.
    »Meinst du, es gibt Menschen, die nicht an die Wiedergeburt glauben?«, fragte ich verblüfft – allein die Vorstellung erschien mir völlig abwegig.
    Die Organisation hatte eine eindeutige Position zur Reinkarnation, ebenso wie ich selbst, bis zu diesem Tag jedenfalls. Jedes Lebewesen existierte mit dem Ziel, zum Absoluten, dem Selbst zurückzukehren, was viele Lebenszeiten in Anspruch nehmen konnte – insbesondere, wenn man nicht der Organisation angehörte. In jedem Leben lernte man neue Lektionen, doch letztlich ging es darum, sich von seinem Ego zu befreien und materiellen Dingen zu entsagen. Miss Fowler hatte einmal gesagt, wir wären wie Kleidungsstücke, die wieder und wieder und wieder im Ganges gewaschen werden müssten, bis sie endlich rein seien. Ich hatte mich gemeldet und erwidert, der Ganges sei doch aber einer der schmutzigsten Flüsse der Welt, sie hatte mir jedoch nur einen ihrer berühmten Blicke zugeworfen, woraufhin ich lieber den Mund gehalten hatte. Das Meditieren, die Sanskrit-Gebete und dieses ganze Veda-Zeug dienten dazu, sich innerlich zu reinigen. Und wenn man in seinem Leben Schlechtes tat, wurde man vielleicht als Skorpion oder Regenwurm wiedergeboren. Die genauen Regeln standen anscheinend in den Veden.
    »Ich weiß nicht«, meinte Amy skeptisch. »Wenn man nicht an die Wiedergeburt glaubt, ist das Leben doch irgendwie sinnlos, oder?«
    »Und was soll das mit dem freien Willen?«, fragte Megan. »Wenn ich Gott wäre, hätte ich mir so etwas nicht ausgedacht.«
    »Mein Vater hat zu Onkel John gesagt, dass der freie Wille Gottes größtes Geschenk ist.«
    »Warum?«
    »Weil Gott sich nichts beweisen muss«, antwortete Amy, kniff ein Auge zu und maß den Baum mit dem Daumen ab.
    Schweigend saßen wir da und ließen den Blick über den blühenden Baum schweifen.
    »Wäre ich Gott, hätte ich vergessen, uns mit einer wasserdichten Haut auszustatten.« Ich stand auf und trat zwischen zwei parkende Autos, um eine bessere Perspektive zu haben.
    »Stellt euch das mal vor! Dann wären wir nach dem Baden total vollgesogen!« Amy lachte, legte die Hände ums Geländer und beugte sich vor.
    »Wie nennt man einen Swimmingpool voller Leprakranker?«, fragte ich.
    »Was muss ich da hören, Caroline Stern?«
    Mr   Baker war zurück. Er verschränkte die Arme. »Wie nennst du denn einen Swimmingpool voller Leprakranker, Caroline?«
    Er wollte uns beweisen, dass er Sinn für Humor hatte, was mir irgendwie den Spaß verdarb.
    »Porridge!«, sagte ich, während ich Höhe und Breite des Baums verglich.
    Wir erschufen das Universum. Soeben hatten wir die Früchte vom Baum der Erkenntnis gepflückt und riefen gerade die vier Winde herbei, als Joanna Kate versehentlich mit dem Westwind anstieß. Woraufhin
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