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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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inne. Es war schön, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. Er hatte also bemerkt, dass ich nicht da war.
    »Sie ist krank«, antwortete Megan.
    Meine Lage war ziemlich beengt. In dem Schrank war gerade einmal Platz für zwei Menschen, auch wenn wir uns vor einiger Zeit zu sechst hineingequetscht hatten, alle übereinander, wie Smarties im Röhrchen.
    Ich ertastete ein paar Pullover und beschloss, mir ein kleines Lager einzurichten. Ich ließ mich nieder und lehnte mich zurück. Offenbar hing Kates Blazer hinter mir, da mir plötzlich ihr Geruch in die Nase stieg. So hatte sie schon immer gerochen – leicht muffig und nach Mottenkugeln. Ich drehte mich zur anderen Seite und sog den Geruch einer Baumwollbluse ein. Teig und Milch. Meine leichteste Übung: Megan. Ich ging die Reihe durch. Birnenseife, das war Jane. Ich zog einen über mir hängenden Pullover näher heran und hielt ihn an meine Nase. Er roch nach Gras und leicht nach Urin; ja, er gehörte zweifellos Anna.
    Wann immer meine Eltern auf Exerzitien waren, versuchte ich, die Woche bei so vielen Klassenkameraden zu verbringen, wie ich nur konnte, um zu sehen, wie sie lebten. Auf diese Weise lernte ich fast alle Familien kennen, auch wenn sich unsere Häuser kaum voneinander unterschieden: sie waren spartanisch eingerichtet, funktional und unserer Sache geweiht. Jedenfalls bemerkte ich, dass jede Familie einen eigenen Geruch hatte. Sobald man das Haus von Anna und ihren Eltern betrat, stieg einem unweigerlich ein Hauch von Urin in die Nase. Ich fragte mich, welcher Geruch von meiner Familie ausging. Probeweise schnupperte ich an meinem Knie – Chlor aus dem Schwimmbad. Ich leckte daran und schnupperte abermals. Roch ziemlich gut, fand ich.
    Ich erinnerte mich, wie ich Miss Fowler früher – ich war etwa fünf gewesen, und wir hatten uns noch nicht aus tiefster Seele gehasst – mittags immer gebeten hatte, mir mein Butterbrot zu schmieren. Sie war stets um die auf Böcken ruhende Tischplatte herumgekommen, hatte ihre Arme über meine gelegt und Butter auf mein Brot gestrichen. Natürlich hätte ich es auch selbst machen können, aber ihre Hände rochen nach Dettol, was ich absolut unwiderstehlich fand. Inzwischen empfand ich den Gestank des Desinfektionsmittels allerdings als unerträglich.
    Als ich es leid war, an fremder Kleidung zu riechen, ließ ich mich zurücksinken und wartete, während Mr   Steinberg Vokabeln abfragte. In Gedanken machte ich mit, fast ohne zu schummeln. Neunzehn Richtige von zwanzig.
    Manchmal, wenn wir besonders gut waren, trat Mr   Steinberg vor seinen Tisch, rieb sich die Hände, lächelte verschmitzt und setzte sich auf die Tischkante. »Na, wollt ihr die Geschichte von Medea hören?«, fragte er dann, oder: »Wer kennt die Geschichte von Theseus und dem Minotaurus?« Oder: »Habe ich euch schon mal von Ödipus erzählt?« Dann schlugen wir unsere Bücher zu, rutschten aufgeregt auf unseren Stühlen herum und hingen an seinen Lippen. Es waren Geschichten voller Blut, Mord, Inzest, Sex und Tod, denen wir mit offenen Mündern lauschten. Keine von uns erzählte zu Hause etwas davon. Diese Geschichten waren unser Geheimnis. Mr   Steinberg hatte offenbar keine Ahnung, wie die Organisation funktionierte. Und wir würden ihn ganz bestimmt nicht darüber aufklären.
    Als ich hörte, wie meine Klassenkameradinnen aufgeregt miteinander tuschelten, wusste ich genau, was los war. Es war nicht fair, hier in diesem Schrank eingesperrt zu sein – ausgerechnet an einem Tag, an dem Mr   Steinberg eine Geschichte erzählte! Oh, wie ich mir wünschte, dabei sein zu können. Eilig setzte ich mich auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit, um einen Blick auf ihn erhaschen zu können. Man musste ihm zusehen, wenn er seine Geschichten zum Besten gab.
    Und da war er in all seiner lässigen Eleganz. Er trug seinen grauen Anzug und ein blaues Hemd. Er schob sich die Brille hoch, wie immer, wenn er aufgeregt war.
    »Wer kennt die Geschichte von Orestes?«
    »Ich nicht!«
    »Ich auch nicht!«
    Ich hörte, wie die anderen ihre Bücher zuschlugen.
    »Ich auch nicht«, murmelte ich in meinem Versteck, öffnete die Tür noch ein bisschen weiter und wandte den Kopf, um ihn besser hören zu können. Anfangs flüsterte er beinahe, so dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.
    »Orestes – der Name bedeutet übrigens so viel wie ›Bergsteiger‹ oder ›Er, der Berge überwinden kann‹ – war der Sohn von Klytämnestra und Agamemnon. Er hatte einen Bruder
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