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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    Das morgendliche Prag roch nach nassem Straßenpflaster und warmem Weißbrot. Es war Ende Mai, und in der Stadt herrschte eine
     unglaubliche tropische Hitze. Gegen Mittag kletterte die Quecksilbersäule des riesigen Thermometers am alten Rathaus auf über
     sechsunddreißig Grad. Doch noch war früher, frischer Morgen. Die Straßen im Stadtzentrum füllten sich mit Menschenmassen und
     Autos, die Spatzen zwitscherten fröhlich, vom soeben mit Wasser besprengten Straßenpflaster stieg Kühle auf.
    Die halbleere Straßenbahn überquerte gemächlich den Platz und fuhr ratternd um die Ecke. Ein Mann um die Dreißig auf dem letzten
     Sitz im vorderen Waggon zuckte heftig zusammen und murmelte auf russisch vor sich hin: »Warum nur? Warum?«
    Die Frau neben ihm, eine ältere Dame mit einer karierten Tasche auf den Knien, schielte erstaunt zu ihm hinüber. Sie registrierte
     dunkelblondes Igelhaar, ein weiches, stupsnasiges Profil und eine blasse Wange mit ungepflegtem Dreitagebart.
    Der junge Mann holte ein bereits benutztes Taschentuch hervor und schneuzte sich angestrengt. Er litt unter einer Allergie
     gegen Pappelflaum, die Nasenschleimhaut schwoll an, die Augen tränten. Er konnte kaum atmen, besonders wenn er nervös war.
     Und jetzt war er mehr als nervös – er war außer sich, verlor fast den Verstand. Sein Hals war wie versteinert. Er mußte den
     Kopf drehen, durch das hintere Fenster in den zweiten Waggon sehen. Von dort, aus der leeren Fahrerkabine, blickten ihn die
     ruhigen, unbewegtenAugen des Mörders an. Er mußte sich davon überzeugen, daß das ein Trugbild war, ein Fiebertraum, eine Folge der schlaflosen
     Nacht. Er mußte sich lediglich umdrehen. Doch sein Hals war versteinert.
    »Příští zastávka Invalidovna!« sagte der Schaffner nach einem herzhaften Gähnen ins Mikrofon.
    Als Kind hatte sich Denis Kurbatow immer amüsiert, wenn er die Haltestelle mit dem für einen Russen komisch klingenden Namen
     passierte.
    »Das ist eine Oma, eine uralte Oma mit Krückstock. Die heißt Invalidovna«, pflegte Denis zu seinem Bruder zu sagen.
    »Nein«, widersprach Anton, »das ist eine Frau in mittleren Jahren – dick, bösartig und mit einem Watschelgang.«
    Dann zwängten sie sich zur Tür, denn an der nächsten Haltestelle mußten sie aussteigen. Zwei Jahre waren sie diese Strecke
     gefahren, zur tschechischen Schule. Die Brüder Kurbatow, Anton und der ein Jahr jüngere Denis, hatten ihre ganze Kindheit
     lang nur miteinander gespielt. Von den tschechischen Jungen und Mädchen wurden die beiden mit einer eigenartig erwachsenen
     Höflichkeit gemieden. Es war 1976, die Erinnerung an die sowjetischen Panzer war noch lebendig. Die Klassenkameraden von Denis,
     1968 geboren, konnten sich natürlich an nichts erinnern. Doch die mit Abscheu gepaarte Angst vor den dröhnend durch die engen
     Gassen der Stadt rasselnden Stahlmonstern hatten diese Kinder mit der Muttermilch eingesogen.
    Wladimir Kurbatow, der Vater der beiden Jungen, war 1968 in die Goldene Stadt im Herzen Europas geschickt worden. Er unterrichtete
     an der Prager Universität Marxismus-Leninismus und Geschichte der KPdSU, war Doktor der Gesellschaftswissenschaften und Oberstleutnant
     des KGB. Er sprach perfekt Tschechisch, das hatte er am Institut für internationale Beziehungen gelernt. Auch seine Söhne
     schickte er nicht in die russische Botschaftsschule, sondern in eine tschechische Schule – erstens, damit sie die Spracherichtig lernten, und zweitens, damit sie lernten, mit Schwierigkeiten fertig zu werden und sich früh an ein fremdes Umfeld
     gewöhnten. Er trainierte die Jungen beizeiten für eine Karriere als Diplomaten und Spione und duldete keine Widerrede.
    Der Blick des Killers brannte sich durch die dicke Fensterscheibe hindurch in Denis Kurbatows Hinterkopf. Kalter Schweiß rann
     ihm unter den Kragen seines zerknitterten Leinenhemdes. Die Straßenbahn hielt, die Frau mit der karierten Tasche schrak auf,
     erhob sich steif und ging zum Ausstieg. Als die Tür sich bereits langsam wieder schloß, hechtete Denis von seinem Platz, schob
     sie mit schlaffen, zitternden Händen auf und sprang im Anfahren ab.
    Er lief die nasse Straße entlang, vorbei an gerade ihre Läden aufschließenden Fleischern, Obst- und Gemüsehändlern, an sperrangelweit
     offenen Türen stiller Morgencafés, an dem dunkelgrauen vierstöckigen Schulgebäude, in das er zwei Jahre lang gegangen war.
     Er lief sehr schnell, ohne sich
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