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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen
Autoren: Polina Daschkowa
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durch das Schalterfenster der Wechselstube schob, fiel ihm ein, daß er sie nicht einmal gezählt hatte und
     gar nicht wußte, wieviel er eigentlich tauschen wollte.
    »Es tut mir sehr leid, mein Herr, aber dieser Schein ist falsch«, sagte die junge Frau, »und der hier auch … Mein Herr, das
     hier sind acht Hundertdollarscheine, und sie sind alle falsch. Wenn Sie wünschen, kann ich einen Fachmann für eine zusätzliche
     Expertise anfordern und ein offizielles Protokoll anfertigen lassen.«
    »Nein danke, nicht nötig.«
    Das Mädchen in der Wechselstube schaute dem komischen Pärchen noch lange nach. Laut Statistik ist jede zehnte Hundertdollarnote
     falsch. Leute, die erfahren, daß sie kein echtes Geld in der Hand halten, sondern eine Blüte, reagierendarauf ganz unterschiedlich. Die einen sind empört, andere fangen an zu weinen, die nächsten brechen in hysterisches Gelächter
     aus, besonders, wenn es sich um eine große Summe handelt. Aber daß jemand einfach so, ohne die geringste Emotion und ohne
     zusätzliche Prüfung, das Falschgeld einfach liegenließ und wegging, das hatte das Mädchen in der Wechselstube noch nie erlebt.
     
    Sie bummelten den ganzen Tag durch Prag, durch die Altstadt, über den Wenzelsplatz und die Karlsbrücke. Es war ein trüber,
     warmer Tag, über den gotischen Türmen lag ein weicher grauer Dunstschleier.
    Hungrig geworden, gingen sie in ein kleines Café, aßen gebratene Špekacky, tranken Bier, rauchten und betrachteten schweigend
     die munteren, lauten Touristenscharen. Als sie genug hatten von dem Gewimmel, stiegen sie in eine Straßenbahn, fuhren zur
     Invalidovna, und Anton zeigte Vera seine alte Schule und das Reisebüro Böhm. Er überlegte, daß er zu Agneška reingehen sollte,
     hatte aber keine Lust dazu.
    Als sie am Abend in einem Straßencafé am Hradschin saßen, stellte Anton plötzlich fest, daß der Koffer weg war. Noch vor fünf
     Minuten hatte er auf einem freien Stuhl an ihrem Tisch gestanden.
    Sie blickten auf den Platz und sahen einen stämmigen Mann in zerknittertem Hawaiihemd und mit einem Rattenschwänzchen im Nacken,
     der sich mit dem Koffer in der Hand eilig vom Café entfernte.
    »Unser Flugzeug geht erst morgen früh. Wir müssen irgendwo übernachten«, sagte Anton nachdenklich. »Wieviel Geld haben wir
     denn noch?«
    »Heute morgen haben wir auf dem Flughafen jeder fünfzig Dollar getauscht«, erinnerte ihn Vera.
    Sie holten ihr Geld aus den Taschen und stellten fest, daß sie noch ganze fünfhundert Kronen und etwas Kleingeld besaßen,
     also keine zwanzig Dollar.
    »Das reicht nicht für ein Hotel. Wir könnten zu Jiří fahren, aber das möchte ich eigentlich nicht.« Anton rief den Kellner
     und zahlte.
    »Macht nichts.« Vera lächelte. »Wir können auch auf dem Flughafen schlafen, im Wartesaal. Die Sessel dort sind sehr bequem.«
    Anton nickte. »Fahren wir.«
    »Zum Flughafen?«
    »Nein, nach Karlštejn. Dort vermietet ein Mann am Bahnhof Zimmer, ganz billig.«
     
    Aus der offenen Tür der Bierstube am Bahnhof Karlštejn drang einsames, leicht angetrunkenes Saxophonspiel. Über der verschlafenen
     kleinen Stadt ragten geisterhaft die Türme des Schlosses empor. Das Museum war längst geschlossen, die Einwohner gingen früh
     schlafen.
    Mitten im leeren Saal der Bierstube spielte ein dicker Mann in Jeans und mit Tirolerhut selbstvergessen Saxophon. Als er die
     späten Besucher bemerkte, legte er das Instrument beiseite und lächelte.
    »Guten Abend, wünschen die Herrschaften ein Bier? Ein warmes Gericht?«
    »Wir suchen eine Übernachtung«, antwortete Anton. »Für zwei Personen.«
    »Oh, ich habe nur ein Einzelzimmer mit Bad, für vierhundert Kronen.«
    »Er hat nur ein Einzelzimmer mit Bad«, übersetzte Anton und sah sie fragend an.
    Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie war mit ihm nach Prag geflogen, weil er sie darum gebeten hatte. Nach
     allem, was geschehen war, wollte er nicht allein sein bei der Lüftung des Geheimnisses. Und sie war natürlich auch neugierig
     zu erfahren, was in der Kiste auf dem Dachboden lag.
    Bis zu ihrer Abreise hatten sie zwei Tage lang auf die Fragenvon Major Uwarow geantwortet und Protokolle unterschrieben. Im Flugzeug hatten sie angeregt ihre Eindrücke ausgetauscht. Und
     dann waren sie den ganzen Tag durch Prag gebummelt und hatten nicht gewußt, worüber sie reden sollten.
    Der Mann mit dem Saxophon sah sie interessiert an. Er wunderte sich, daß sie schwiegen, warum ein
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