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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen
Autoren: Polina Daschkowa
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umzudrehen. Die wenigen Passanten blickten ihm erstaunt nach.
    Er wußte noch aus seiner Kindheit, daß es hier in der Gasse, ganz in der Nähe der Schule, zwischen einem Tabakladen und einem
     Friseur einen Durchgangshof geben mußte. Er erkannte sogar das Haus wieder, mit dem Paradeeingang zur Straße und dem Hintereingang
     zum stillen Hof. Doch die vordere Hoftür war nun aus Stahl, und daneben hing eine Wechselsprechanlage.
    Im Friseurgeschäft lehnte ein molliges Mädchen im lila Kittel im Türrahmen, in der einen Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen
     ein halbes knusprigbraunes Hörnchen.
    »Bitte, mein Herr, kommen Sie herein, guten Morgen«, sagte sie auf tschechisch und lächelte freundlich.
    Er trat ein in den süßlichen Geruch von Haarlack und Rasierwasser und ließ sich in einen Drehsessel fallen. Aus dem riesigen
     Spiegel blickte ihm ein blasser Mann mit schwarzenRingen unter den Augen und stoppeligen, eingefallenen Wangen entgegen.
    Die Friseuse in der Kittelschürze aß rasch ihr Butterhörnchen auf, leerte mit einem Schluck die Kaffeetasse und tauchte im
     Spiegel hinter Denis auf.
    »Rasieren? Haareschneiden ist nicht nötig, oder?«
    »Ja. Nur rasieren«, antwortete er heiser auf tschechisch. »Haareschneiden ist nicht nötig.«
    Er hatte sich ein wenig beruhigt. Im Spiegel konnte er das breite, offene Fenster ausmachen, durch das ein Stück Straße gut
     einzusehen war. Ohne den Kopf zu drehen, konnte er die Vorbeikommenden beobachten. Ein Bankangestellter im strengen grauen
     Anzug erschien, eine junge Mama in Shorts schob einen Kinderwagen. Das etwa einjährige Mädchen darin hatte einen grellrosa
     Strohhut auf dem Kopf. Dann lief gemächlich ein alter Schornsteinfeger mit schwarzem Zylinder vorbei. Denis erinnerte sich,
     wie sehr er als Kind diese märchenhaft anmutenden Prager Schornsteinfeger gemocht hatte. In der Altstadt gab es viele Kamine,
     und die Schornsteine wurden noch immer gefegt wie vor dreihundert Jahren.
    Der Schornsteinfeger schaute zum Fenster herein und nickte der Friseuse zu. Sie lächelte zurück und rief: »Guten Morgen, Herr
     Stašek!«
    Unvermittelt ruckte Denis heftig mit dem Kopf. Das Rasiermesser glitt über seine Haut und hinterließ einen tiefen dünnen Schnitt.
    »Ach, entschuldigen Sie, der Pan hat so plötzlich den Kopf gedreht, warten Sie, Augenblick …«, sagte das Mädchen aufgeregt
     und tupfte ihm mit einem sauberen Papiertuch das Blut von der Wange.
    Der Mörder war gleich nach dem Schornsteinfeger aufgetaucht. Er war direkt vor dem Fenster des Friseurgeschäfts stehengeblieben,
     hatte sich eine Zigarette angezündet und blickte Denis nun seelenruhig durch den Spiegel an. IhreBlicke trafen sich. Denis glaubte auf dem jungen Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart Spott zu erkennen.
    »Entschuldigen Sie, junge Frau«, krächzte er kaum hörbar, »gibt es hier in der Nähe irgendwo ein Fax?«
    »Ja, gleich um die Ecke, in der Ahornstraße, da ist ein Reisebüro. Von dort können Sie ein Fax schicken.«
    Die Friseuse rasierte ihn vorsichtig zu Ende, fuhr mit dem Rasiermesser sanft über sein Kinn und wischte ihm den Schaum vom
     Gesicht.
    »Wünscht der Herr noch eine Massage oder eine Maniküre?« fragte sie, während sie sein Kinn mit einem in Rasierwasser getauchten
     Tuch abtupfte.
    Für eine Sekunde schloß Denis die Augen. Als er wieder in den Spiegel sah, war der Killer weg. Nur eine dünne Rauchsäule stieg
     vom Boden auf.
    »Nein danke, nicht nötig.«
    »Vierundzwanzig Kronen«, verkündete das Mädchen ein wenig enttäuscht.
    »Entschuldigen Sie, wo ist bei Ihnen die Toilette?« fragte er, während er das Geld aus seiner Gürteltasche kramte.
    Diesmal hatte er Glück. In der kleinen Kabine war ein Fenster, dick mit Ölfarbe überstrichen. Er riß den Riegel auf, schwang
     sich über das niedrige Fensterbrett und landete in einem menschenleeren Hof. Zunächst fürchtete er, das sei eine Sackgasse
     – der Hof sei auf allen vier Seiten von Häusern umschlossen, es gebe keinen Ausgang. Doch dann entdeckte er einen kleinen
     Torbogen, der mit Müllcontainern zugestellt war.
    Ohne den Müllgeruch wahrzunehmen, hockte er sich hinter einen Container und sah hinaus auf die Straße. Es schien alles ruhig
     zu sein. Der schnurrbärtige Killer hatte ihn wieder verloren. Überhaupt – vielleicht hatte der Bursche am Fenster ihm nur
     ähnlich gesehen? Schließlich taten Denis die Augen weh und tränten wegen der Allergie, dazu die schlaflose Nacht,
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