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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen
Autoren: Polina Daschkowa
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zu erreichen, dachte Vera mechanisch.
    Woher kam dieser Bursche in der hellen Jacke plötzlich? Wie war er in die Wohnung gelangt? Er war sehr klein, einen Kopf kleiner
     als Skwosnjak und mit Sicherheit schwächer als dieser. Animalische Wut verlieh dem verwundeten Skwosnjak neue Kräfte. Ungewiß,
     wie der Kampf ausgehen würde. Sie mußte etwas tun!
    Vera versuchte aufzustehen, aber es ging nicht, ihre Beine versagten den Dienst, und ihr war furchtbar schwindlig. Anton lag
     reglos vorm Tisch, mit nach hinten gesunkenem Kopf und halboffenem Mund.
    Sie kroch zu ihm, legte ein Ohr an seine Brust und konnte nicht ausmachen, ob das, was sie hörte, sein Herzschlag war oder
     ob ihr eigenes Herz so ohrenbetäubend hämmerte. Anton hustete heiser und krampfhaft. Vera hob seinen Kopf an, aber ihre Arme
     waren kraftlos, sie spürte, daß sie das Bewußtsein verlor, das Zimmer drehte sich vor ihren Augen und entschwebte in klingendes,
     leeres Dunkel.
    Hinter der Wand bellte Matwej wie rasend. Als sie die Wohnung betreten hatten, war der Hund sofort ins Nebenzimmer gerannt
     und hatte sich unterm Tisch verkrochen.Die Tür war hinter ihm zugeklappt, er konnte sie nicht öffnen und heulte und tobte. Aber niemand hörte ihn.
     
    Wolodja prügelte sich zum erstenmal im Leben. Natürlich hatte er sich als Kind hin und wieder geschlagen, aber so wie jetzt,
     auf Leben und Tod, noch nie. In einer hinteren Ecke seines Bewußtseins war ihm klar: In diesem Duell würde er unterliegen.
     Obwohl Skwosnjak verletzt war.
    Der Kampf schien eine Ewigkeit zu dauern, dabei waren erst einige Minuten vergangen. Wolodja wich den Schlägen aus und zog
     sich dabei zur offenen Balkontür zurück.
    Vera und Anton waren endlich wieder auf die Beine gekommen.
    »Lauft weg!« rief Wolodja ihnen zu.
    Er und Skwosnjak rangen auf dem Balkon weiter. Unten sammelte sich eine Menschenmenge. Die Schaulustigen blickten zu dem Balkon
     im vierten Stock hoch.
    »Was ist denn da los?«
    »Wir müssen die Miliz holen! Jemand muß die Miliz anrufen!«
    Skwosnjak preßte Wolodja gegen das zierliche Balkongitter.
    Die selbstgebastelte Handgranate, klein und flach, paßte in das lederne Feuerzeugetui. Er hatte nur diese mitgenommen, für
     alle Fälle. Die beiden größeren Granaten hatte er im Auto gelassen und Sonja streng untersagt, sie anzufassen.
    Das Etui mit der Minihandgranate, die er speziell für lokale, für »Zimmerdetonationen« entwickelt hatte, war an seinem Gürtel
     befestigt. Er brauchte nur zwei rasche Handgriffe – das Etui aufknöpfen und an dem dünnen Drahtring ziehen.
    Skwosnjak hob den Arm zum Schlag. Im nächsten Augenblick ertönte die Explosion. Die Schaulustigen schrien auf und rannten
     auseinander. Jemand lief zur Telefonzelleund rief die Miliz und den Notarzt an. Der Balkon war nicht herabgestürzt. Die Druckwelle hatte die Scheibe der Balkontür
     zerbrochen, im Zimmer war der Porzellankronleuchter von der Decke gefallen und in tausend Scherben zersplittert, die nach
     allen Seiten flogen. Anton hatte sich zusammen mit Vera rechtzeitig auf den Boden geworfen. Er fürchtete, die Decke würde
     jeden Moment einstürzen, bedeckte Veras Kopf mit seinen Händen und kniff die Augen zu.
    Das Balkongitter war durchschlagen. Zwei blutüberströmte Männer stürzten vom vierten Stock auf den warmen, staubigen Asphalt.
     Aus einem vorm Hundespielplatz geparkten Auto sprang ein Mädchen, rannte zu dem ausgestreckten Körper des kleinen Mannes in
     der hellen Jacke, sank auf die Knie und weinte.
    Um sie herum sammelten sich Menschen, eine alte Frau ging zu dem Mädchen und versuchte behutsam, sie aufzuheben.
    »Nicht, mein Kind, sieh da nicht hin.«
    Aber das Mädchen nahm nichts um sich herum wahr. Sie weinte bitterlich und sagte immer wieder: »Wolodja … Du Lieber … Warum
     nur?«
    Eine Sirene heulte. Ein Milizauto kam auf den Hof gefahren, gefolgt von einem Kleinbus mit der Einsatzgruppe von Major Uwarow.
     
    Uwarow erkannte ihn auf Anhieb. Die toten Augen des Heimkindes Kolja Koslow starrten in den durchsichtigen Junihimmel, an
     dem nur wenige schneeweiße Wolken dahinschwebten und wo ganz weit oben eine einzelne Schwalbe rasche Zickzacklinien flog.
    »Gehen Sie auseinander, Bürger …«
    »Nehmen Sie das Kind da weg. Zu wem gehört das Kind?«
    »Steh auf, Mädchen. Kennst du diesen Mann?«
    »Da dürfen Sie nicht hin! Halt!«
    Durch die Menge der Schaulustigen und Milizionäre drängte sich eine blonde junge Frau und rannte zu
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