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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen
Autoren: Polina Daschkowa
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verändert in den paar Minuten Weg zum Haus und die Treppe hinauf. Sie war merkwürdig ruhig.
     Nur ihr Gesicht war noch immer blaß.
    Sobald sie in der Wohnung waren, griff Anton zum Telefon – er wollte den alten Anwalt anrufen, ihm sagen, daß dasKind entführt worden war. Im Hörer herrschte Grabesstille. Kein Tuten. Das Telefon war defekt.
    Er legte auf und hörte hinter sich eine ruhige Männerstimme fragen: »Du hast doch das Telefon selber lahmgelegt, Kurbatow.
     Also, was soll das Theater?«
     
    Der Laden an der Bahnstation Lugowaja war wegen Inventur geschlossen. Die windschiefe Hütte stand seit Ende der Fünfziger
     hier, darauf prangte ein von Regen und Sonne verwittertes Holzschild mit der vielversprechenden Aufschrift: »LEBENSMITTEL«.
    Es roch nach erhitztem Staub und Kamille. Der alte Eichenhain war von der Hitze des Junimittags durchglüht. Aus der Ferne
     drangen das Muhen von Kühen und das trockene Peitschenknallen des Hirten herüber.
    Über dem flachen Dach des Lebensmittelladens erhob sich eine dreihundertjährige riesige Eiche. In seiner dichten Krone saß
     ein Scharfschütze. Ihm war nicht heiß, er hatte nur schreckliche Lust auf eine Zigarette.
    Ein weiterer Scharfschütze lag auf dem Blechdach über den Fahrkartenschaltern. Das Blech war glühend heiß, die Äste der paar
     Birken, die über dem Dach hingen, schützten nicht vor der Hitze, immerhin aber vor neugierigen Blicken. Drei Einsatzkräfte
     in orangeroten Westen machten sich an den Gleisen zu schaffen. Zwei weitere spielten Fahrgäste, die auf den Zug warteten.
    Die Zeit verging elend langsam. Nichts ist so zermürbend wie langes, angespanntes Warten. Die Augen fallen einem zu, besonders
     in der weichen Junisonne, an der frischen Luft …
    »Sieh mal, er ist zu früh, eine Viertelstunde.« Malzew wurde munter, als Tschuwiljows salatgrüner Skoda um die Ecke bog.
    Tolja parkte hinterm Laden, blieb eine Weile im Wagen sitzen, stieg dann aus, lief um die Hütte herum, hielt vor dermit einem Vorhängeschloß verriegelten Tür inne, studierte lange die Fetzen alter Annoncen und die mit einer Reißzwecke angepinnte
     Heftseite mit der Aufschrift »Inventur«. Dann schaute er sich beunruhigt nach allen Seiten um, sah auf die Uhr, lief auf und
     ab und setzte sich schließlich unter einer Eiche ins Gras, genau unter der, auf der der Scharfschütze saß. An den breiten
     Stamm gelehnt, zündete er sich eine Zigarette an. Sah noch einmal auf die Uhr.
    »Als ob er auf sein geliebtes Mädchen wartet«, bemerkte Malzew, »so nervös ist er.«
    »Ich bin auch nervös«, knurrte Uwarow.
    Fünfzehn Minuten vergingen, eine halbe Stunde. Tschuwiljow hatte eine weitere Zigarette geraucht, war auf den Bahnsteig gegangen,
     hatte den Fahrplan studiert und sich dann wieder unter die Eiche gesetzt.
    Nun war eine Stunde vergangen. Inzwischen waren drei Züge aus Moskau und zwei nach Moskau gekommen. In Lugowaja stieg um diese
     Zeit kaum jemand aus. Tschuwiljow setzte sich wieder in sein Auto, holte eine Tüte Apfelsaft heraus und einen Plastikbecher,
     schaltete das Radio ein.
    Den Scharfschützen schliefen Arme und Beine ein. Der Mann auf der Eiche rauchte klammheimlich eine Zigarette, die er in der
     Faust verbarg.
    Eine weitere halbe Stunde verging.
    Tschuwiljow lief ein letztes Mal um den Laden herum, dann stieg er ins Auto und ließ den Motor an.
    »Hör mal, Jura, vielleicht nehmen wir wenigstens den hier fest, damit es nicht ganz so frustrierend ist?« meinte Malzew.
    »Der läuft uns nicht weg.« In Uwarows Hand klingelte leise das Telefon.
    »Major Uwarow? Hier spricht Hauptmann Sintschenko. Ich verbinde Sie mit dem General.«
    Gleich darauf ertönte im Hörer der grollende Baß des Generals.
    »Wie sieht’s aus bei euch? Habt ihr ihn endlich?«
    »Guten Tag, Genosse General«, sagte Uwarow, »nein, wir haben ihn nicht. Er ist nicht gekommen.«
    »So-o«, sagte der General nachdenklich. »Nun, ich habe hier einen Tip bekommen. Schick doch mal deine Jungs hin, vielleicht
     habt ihr ja da Glück. Vermutlich nicht, aber überprüft das für alle Fälle.«
    Jetzt war wieder der Adjutant dran. Er nannte Uwarow die Adresse. Uwarow kannte sie: Es war die Adresse von Vera Saltykowa.
     
    In dem großen Flurspiegel über dem Telefontischchen sah Anton das Gesicht von Skwosnjak und das bleiche, fast durchsichtige
     Gesicht von Vera.
    »Stehenbleiben. Keine Bewegung.« Skwosnjak hielt eine Pistole in der Hand, die Mündung direkt auf Antons
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