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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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Joanna Megan versehentlich mit dem Ostwind schubste und Megan eine volle Blumenvase in den Kamin stieß.
    »Tay tattah tay tattah tattah tattah tay«, sangen wir und knallten unsere Absätze rhythmisch auf den Boden, während wir tanzten. Unsere Handflächen glitten durch die Luft, und die Glöckchen an unseren Fußgelenken klingelten, während wir die Himmel von der Erde trennten. Megan gelang es, die Vase wieder richtig hinzustellen, ohne dass Mrs   Gentle etwas bemerkte.
    Mit Mrs   Gentle war nicht zu spaßen. Nach Miss Fowler fürchteten wir Mrs   Gentle am meisten. Einmal hatte sie mich übers Knie gelegt und mir den nackten Hintern versohlt – direkt vor dem Fenster zur Straße, sodass jederzeit Passanten hätten hereinsehen können. Wann immer wir vedischen Tanz übten, überwachte sie uns mit dem Tafelschwamm in der Hand, mit dem sie uns beim geringsten Anlass bewarf.
    Sie stand am Pult vor den großen Fenstern. Das einfallende Licht war so grell, dass wir ihre Gesichtszüge nicht erkennen konnten, doch stand außer Frage, dass sie eine strenge Miene verzog. Sie war fast zwergenhaft klein, dürr wie eine Bohnenstange und besaß lediglich zwei furchterregende, vorwurfsvoll hervortretende Warzen anstelle von Brüsten. Ihr rotes Haar, das die Geschmeidigkeit von Stahlwolle besaß, hatte sie zum obligatorischen straffen Knoten im Nacken frisiert. Ihr Mund war nicht mehr als ein Schlitz, und die dicken Brillengläser vergrößerten ihre Augen wie ein Goldfischglas. Trotzdem musste sie irgendetwas Anziehendes an sich haben, da sie bereits zum dritten Mal verheiratet war. Wenn man sie allerdings mit einem ihrer früheren Namen ansprach, verlor sie die Beherrschung.
    Außerdem war sie Janes Tante. Wir hatten keine richtigen Lehrer in St.   Augustine’s, sondern die meisten waren mit uns verwandt und hatten ihre Fächer mehr oder minder zufällig zugeteilt bekommen. Nur Mr   Steinberg war ein echter Lehrer. Von den anderen hatten lediglich ein oder zwei Erfahrung im Unterrichten, und ich bezweifelte, dass uns jemand gern vedischen Tanz beibringen wollte. Unsere Eltern arbeiteten allesamt mit, ob sie nun putzten, unterrichteten oder Uniformen nähten – dadurch sparten sie die Schulgebühren. Die Lehrer bekamen kein Gehalt, sondern wurden mit dem entlohnt, »was sie benötigten«. Was wiederum dazu führte, dass sich alle gegenseitig mit ihren Forderungen unterboten. Ich hasste meinen Vater dafür. Bei uns gab es oft nur Rice Crispies zum Abendessen.
    »Die Nächste, die sich danebenbenimmt, kann sich direkt bei Miss Fowler melden!«
    Instinktiv wusste ich, dass ich diejenige sein würde. Es war so unabwendbar wie die nächste Meditation. Obwohl sie mich nicht direkt ansprach, war mir klar, dass ich gemeint war. Blieb nur die Frage, wann es so weit sein würde.
    Mrs   Gentle schnippte mit den Fingern. »Kreise«, sagte sie. Rasch bildeten wir einen inneren und einen äußeren Kreis und warteten auf das nächste Kommando. Das Beste am vedischen Tanz waren unsere langen, farbenprächtigen Tanzröcke aus Satin, die mit Abstand schicksten Sachen, die wir besaßen. Wir genossen es, uns in ihnen zu drehen und zuzusehen, wie der bunte Stoff um uns herumwirbelte.
    »Lolitum!«, befahl sie auf Sanskrit.
    »Lolitum!«, skandierten wir und begannen uns zu drehen, der äußere Kreis im Uhrzeigersinn, der innere andersherum.
    Lolitum war ein schwieriger Tanzschritt. Man trat einen Schritt vor, dann einen zurück und ließ die Zehen des einen Fußes kreisen, ehe man sich wieder vorwärtsbewegte. Die Glöckchen an unseren Knöcheln klingelten, während hundertzwanzig Zehen im Takt kreisten.
    »Lolitum«, riefen wir.
    Am schlimmsten war es, wenn man sich im äußeren Kreis befand, da man ein paar Schritte am Fenster vorbeitanzen musste. Das konnte fürchterlich peinlich werden, wenn jemand von der Straße hereinsah. Die Tatsache, dass wir uns zum Gespött der Leute machten, festigte nur meinen Argwohn gegenüber der Organisation.
    Eine der elementaren Regeln beim vedischen Tanz bestand darin, die Lider gesenkt zu halten. Die Augen sollten nur bei bestimmten Figuren ganz geöffnet werden. Sobald ein Augapfel aufblitzte, war das verdächtig. Und so drehten und drehten wir uns, während wir die Augen niederschlugen, dass wir davon regelrecht Kopfschmerzen bekamen.
    Die Füße meiner Mitschülerinnen kannte ich ebenso gut wie ihre Gerüche. Kates kleine rosa Zehen tanzten an mir vorbei, gefolgt von Emmas riesigen Adlerklauen und
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