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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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Furien an! Stellt sie euch vor, Mädchen. Zwar hüten sie die sittliche Ordnung, aber es handelt sich um drei verrückte, furchterregende Frauen …«
    Furien? Aha. Furios. Furor. Da musste irgendeine Verbindung bestehen. Na los, warum fragt denn keiner? Ich biss mir auf die Unterlippe.
    »… schauerliche, dämonische Gestalten, die Klauen statt Fingernägeln und Schlangen statt Haaren haben. Und aus ihren Augen tropft Blut.«
    »Und was wollen sie?«, fragte Amy.
    »Sie wollen einen in den Wahnsinn treiben! Sie rücken einem so lange zu Leibe, bis man Selbstmord begeht!«
    Wow!
    Mr   Steinberg sah auf seine Uhr, und im selben Augenblick ging ein kollektives Raunen der Enttäuschung durchs Klassenzimmer.
    »Oh, nein!«, flüsterte ich. Er durfte jetzt nicht aufhören! Hatten die Furien Orestes in den Wahnsinn getrieben? Was war geschehen?
    »Wir haben schon überzogen, Mädchen.« Er klatschte in die Hände. »Tut mir leid, aber für heute ist Schluss.«
    Ich wusste, dass er sich jede Sekunde wieder setzen und die Augen schließen würde – bevor alle zusammen das Sanskrit-Gebet sprachen, mit dem die Stunde beendet wurde.
    Was bedeutete, dass wir die Geschichte nicht zu Ende hören würden.
    »Okay, Entspannungspause«, sagte er. Als er sich auf seinem Stuhl niederließ, war alle Begeisterung von seinen Gesichtszügen verschwunden.
    Ich konnte nicht anders. Ich stieß die Schranktür auf. »Nein! Sie können nicht mittendrin aufhören, Mr   Steinberg! Die Geschichte ist doch noch gar nicht zu Ende! Was ist mit Orestes passiert? Was hat es mit der Bedeutung seines Namens auf sich?«
    Alle wandten sich um. Mr   Steinberg musterte mich verblüfft.
    »Was machst du denn in dem Schrank, Caroline?«
    »Ich … ich …«, stammelte ich. »Ich habe mich vorhin hier versteckt … und dann fing plötzlich die nächste Stunde an … Bitte schicken Sie mich nicht zu Miss Fowler.«
    Es war schwer zu sagen, was er unternehmen würde. Er sah mich an, während ich versuchte, ihn mit meinem Blick milde zu stimmen.
    »Du hast uns also zugehört?«
    Ich nickte.
    »Die ganze Stunde über?«
    Wieder nickte ich.
    »Auch beim Vokabeltest?«
    Ich nickte. »Ich hatte neunzehn richtig.«
    »Welches Wort wusstest du nicht?«
    »Grenze.«
    Er starrte mich weiter an, offenbar unschlüssig, was er tun sollte. Bitte, lieber Gott, mach, dass er mich nicht zu Miss Fowler schickt. Dann sah ich, wie ein angedeutetes Lächeln um seine Lippen spielte. Langsam begann er den Kopf zu schütteln, während er mich weiterhin musterte und angestrengt versuchte, sein Lächeln zu unterdrücken.
    »Schäm dich, Caroline Stern!«, sagte er. »Schäm dich!«
    Es waren die aufregendsten Worte der gesamten englischen Sprache, und wann immer er sie aussprach, empfand ich alles andere als Scham. Es war das schönste Gefühl auf der ganzen Welt.
    Es war Amys dreizehnter Geburtstag, und zur Feier des Tages hatte uns Mr   Baker erlaubt, in South Kensington Bäume zu studieren. Papier und Stifte durften wir nicht mitnehmen. Stattdessen sollten wir uns einfach einen Baum aussuchen und ihn vierzig Minuten lang betrachten – und zwar richtig betrachten, bis wir spürten, wie wir mit ihm eins wurden. Nach unserer Rückkehr sollten wir den Baum dann malen.
    Mr   Baker, der normalerweise streng darauf achtete, dass die Regeln der Organisation eingehalten wurden, hatte offenbar vergessen, dass Megan und ich grundsätzlich nicht in derselben Gruppe sein durften, sondern strikt getrennt werden sollten. Aber er hatte Amy die Wahl überlassen, mit wem sie losziehen wollte; natürlich hatte sie sich Megan und mich ausgesucht. Also marschierten wir zusammen in den Frühlingssonnenschein.
    Nachdem wir uns erst einmal damit abgefunden hatten, dass uns die anderen Fußgänger am Ende von Onslow Gardens wie üblich mit neugierigen Blicken anstarrten, wenn wir in unseren albernen lila Uniformen unsere Entspannungsübungen machten, begannen wir uns tatsächlich zu amüsieren.
    Wir fühlten uns frei und waren guter Dinge. Schließlich stießen wir auf einen schönen Baum. Er stand auf dem Bürgersteig vor einem großen weißen Haus mit einer Souterrainwohnung, zu der eine Treppe mit schwarzem Geländer führte.
    Amy und ich setzten uns auf die kleine Mauer und ließen die Beine baumeln, während Megan auf die andere Seite des Baums trat. Wir hatten zwar keine Ahnung, was für ein Baum es war, aber er hatte gerade zu blühen begonnen, und etwa achtzig Prozent der Blüten waren schon
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