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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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und zwei Schwestern, Iphigenie und Elektra.«
    Ich sah, wie Kate nervös mit den Knien wackelte.
    »Also, als Orestes in eurem Alter war, etwa zwölf oder dreizehn, zog Agamemnon in den Krieg gegen die Trojaner. Um sich den Sieg zu sichern, opferte er seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis. Wovon seine Frau bestimmt alles andere als begeistert war. Aber schöne Frauen ziehen nun mal von Natur aus eine Menge Aufmerksamkeit auf sich …«
    O Gott, wie inbrünstig ich hoffte, dass ich eine schöne Frau war.
    »Jedenfalls vermute ich, dass Klytämnestra eine schöne Frau war, da Agamemnon seinen begabtesten Sänger damit beauftragte, sich ihrer während seiner Abwesenheit anzunehmen, vor allem, um sie von möglichen Freiern abzulenken.«
    Was war ein Freier? Ich hoffte, dass jemand fragen würde.
    »Was ist ein Freier?« Es war Amy.
    »Ein Verehrer«, erwiderte er. »Und es kam, wie es kommen musste. Kaum war Agamemnon fort, nahm sich Klytämnestra einen Liebhaber.«
    So leicht und herrlich kamen die Worte über seine Lippen, als handele es sich um die schönste Sache der Welt.
    Ich öffnete die Schranktür noch ein wenig mehr, um bloß nichts zu verpassen. Und ich musste Mr   Steinberg richtig sehen.
    »Und was war das für ein Sänger?«, fragte Deborah. Sie wollte immer alles bis ins kleinste Detail wissen.
    »Tja«, meinte er. »Damals war ein Sänger wohl so etwas Ähnliches wie ein Radio. Aber statt das Radio anzustellen, sagte man einfach: ›Los, Sänger! Sing!‹« Steinberg schnippte mit den Fingern, neigte den Kopf nach vorn, so dass ihm das wellige Haar in die Stirn fiel, und sang: » I love rock and roll, put another record on the jukebox, baby … «
    Alle lachten. Wir liebten es, wenn Mr   Steinberg solche Sachen machte und damit zeigte, dass er ein Außenseiter war; dass er aus der normalen Welt da draußen kam. Wir durften kein Radio hören. Sie sagten, das würde bloß Chaos in unseren Köpfen anrichten. Radios waren in unserer Gemeinschaft streng verboten, ebenso wie sämtliche Orte, an denen Radios liefen.
    »Oh! Singen Sie uns noch mehr vor!«, wäre ich beinahe herausgeplatzt. Und wäre ich in der Klasse gewesen, hätte ich mich garantiert zu Wort gemeldet, und wer weiß, vielleicht wäre er meinem Wunsch nachgekommen. Er mochte mich.
    Doch in diesem Moment schien sich Mr   Steinberg daran zu erinnern, vor wem er stand und dass er seine Vergangenheit besser hinter sich ließ. Man sah fast, wie ein Schatten über seine Miene huschte und seine Mundwinkel leicht herabsackten.
    »Egal«, sagte er in beinahe mitleidigem Tonfall. »Jedenfalls kehrte Agamemnon schließlich aus dem Krieg zurück …«
    Mr   Steinberg tat so, als sei er völlig erschöpft, und hielt sich den Arm, als sei er gebrochen. »Übrigens mit einer neuen Geliebten, Kassandra. Erinnert ihr euch an Kassandra?«
    Ja, natürlich erinnerte ich mich an Kassandra. Sie besaß die Gabe der Vorsehung, doch Apollos Fluch hatte dafür gesorgt, dass ihr niemand glaubte.
    »Na?« In gespielter Ungläubigkeit ließ er den Blick durchs Klassenzimmer schweifen. »Erinnert sich keine mehr an Kassandra?«
    »Weissagung!«, flüsterte ich laut.
    »Na? Kassandra? Die Gabe der Weissagung?«
    Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Wie gern hätte ich jetzt an meinen Platz gesessen und ihm gezeigt, dass ich es wusste. Ich wollte ihn beeindrucken, die Bewunderung in seinen Augen sehen. Als ich mich zurechtsetzte, knisterte eine Papiertüte unter mir, so dass ich seine nächsten Worte nicht mitbekam. Ich drückte mein Gesicht an den schmalen Türspalt.
    »Tja … und Agamemnon nimmt erst mal ein Bad.« Mr   Steinberg pfiff vor sich hin und tat so, als würde er sich den Rücken mit einer Badebürste schrubben. Alle lachten. Ich auch.
    »Und plötzlich kommen Klytämnestra und Aigisthos herein, werfen ein Netz über ihn und erschlagen ihn mit einer Axt!« Seine Stimme klang mörderisch, und seine Augen blitzten hinter der Brille. Er war so unglaublich toll. Dann verschwand er aus meinem Sichtfeld, so dass ich aufstehen musste.
    »Und als Orestes zehn Jahre später nach Hause zurückkehrt, ist er ein Mann, ungefähr so alt wie ich.«
    Mr   Steinberg stolzierte auf und ab, woraufhin wieder alle lachten. Ja, er war ein Mann, ein richtiger Mann.
    »Zuerst tötet Orestes den Liebhaber seiner Mutter – und dann auch noch sie selbst! Tja, es gibt kein schlimmeres Verbrechen als Muttermord. So etwas darf nicht ungesühnt bleiben! Und schon rücken die
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