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Sieh mich an, Al Sony

Sieh mich an, Al Sony

Titel: Sieh mich an, Al Sony
Autoren: Denise Danks
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ihm noch hinten draufschreiben. Er gab mir die Karte zurück und versuchte, geduldig zu klingen, indem er langsam sprach.
    »Bitte. Wo arbeiten Sie jetzt?« fragte er.
    »Nirgends. Ich bin freiberuflich tätig, aber ich habe seit einer Weile nicht mehr gearbeitet. Denke immer noch drüber nach, aber falls und wenn ich es tue, werde ich es hier tun. Rauchen Sie?«
    Er schüttelte den Kopf, sagte aber, er habe nichts dagegen, als ich fragte, ob ich rauchen dürfe. Ich zündete mir eine an und blies ein paar Rauchringe in die Luft.
    »Ich versuche, es mir abzugewöhnen«, sagte ich.
    Keine Antwort. Ich lächelte beruhigend, und dann lächelte auch er, mit richtig schmalen Lippen diesmal, und wieder folgte ein langes, verlegenes Schweigen, bis ich ihm eine Frage stellte, die ihn die Augen aufreißen ließ, weil er eine neuerliche Attacke auf seine sensiblen Gefühle erwartete.
    »Sind Sie mit der Chaos-Theorie vertraut?«
    »Mit der Chaos-Theorie?«
    »Ich dachte, sie könnte uns in diesem Augenblick helfen. Verstehen helfen.«
    »Sprechen Sie weiter. Bitte.«
    Ich verneigte mich tief.
    »Wenn Sie gestatten, werde ich langsam sprechen; das wird mir helfen, meine Gedanken zu klären«, sagte ich. Seine Schultern schienen sich zu entspannen, und er machte eine scharfe kleine Verbeugung. Ich hatte diese Art von Schleimscheißerei bei einem Pressebesuch in einer japanischen Druckerei in Wales gelernt. Der Geschäftsführer war auf weibliche Anwesenheit im Pressecorps nicht vorbereitet gewesen und hatte sich geweigert, direkte Fragen von mir zu beantworten. Ich hatte mir allerdings gemerkt, wie es ging.
    »Erstens, der Theorie zufolge sind alle Systeme empfindlich abhängig von ihrem anfänglichen Zustand«, sagte ich.
    »Hai.«
    »Zweitens: Existierende Unterschiede in den Systemen werden sich mit der Zeit vergrößern, in Anbetracht des rapiden Auseinanderstrebens der Verlaufsbahnen.«
    Kein h ai.
    »Spreche ich zu schnell?« frage ich.
    »Etwas langsamer wäre mir lieber, bitte.«
    »Okay. Das bedeutet, daß kleine Unterschiede in den Systemen sich wieder und wieder vervielfältigen, bis sie sehr große Unterschiede sind.«
    »Ich verstehe.«
    »Das ist eine gute Erklärung für Darwins Evolutionslehre, Brudermord, Computerversagen und dafür, weshalb ich nicht mehr bei meinen Eltern lebe oder bei meinem Exgatten, und wieso die Menschen von zwei verschiedenen, kleinen Inseln auf entgegengesetzten Seiten der Welt so völlig unterschiedlich sein können. Es erklärt auch, warum ich Sie beleidigen kann, ohne es zu wollen, und weshalb Sie mich die letzte halbe Stunde anstarren, als ob ich zwei Köpfe hätte.«
    Shinichro versank wieder in Schweigen, jetzt eher bedrückt als mißbilligend. Ich bekam den Verdacht, daß es beim japanischen Schweigen ebenso feine Unterschiede gab wie beim Schnee für den Eskimo oder beim Regen für den Engländer.
    »Es ist sehr schwer für mich, einen Japaner, eure Art zu verstehen... eure Philosophie.« Philosophie war ein schweres Wort für ihn, und er verzog frustriert das Gesicht, als er es auszusprechen versuchte.
    »Na, keine Sorge, wir haben ein paar Millionen davon, eine für jeden von uns. Manchmal treffen sie zusammen, aber geballt und bei großen Fragen wie der, ob die Geschäfte sonntags geöffnet sein sollten oder nicht.«
    Er starrte mich über den Küchentisch hinweg an, und ein wilder, trotziger Glanz trat in seine dunklen Augen. Er sah inzwischen ein bißchen besser aus. Sein wohlproportioniertes Gesicht, das anfangs kränklich bleich und olivgrün gewesen war, hatte seinen goldenen Schimmer wieder, und ich stellte erfreut fest, daß er an diesem Morgen in meiner Küche so gut aussah wie am Abend zuvor im Club. Er war schätzungsweise Anfang Dreißig, etwa einsachtzig groß und kräftig. Sein schwarzes Haar war nicht pomadig glatt nach hinten gekämmt, wie japanische Geschäftsleute es gewöhnlich bevorzugen, sondern über der hohen, makellosen Stirn zu einer hübschen, modischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Er hatte eine kräftige, wohlgeformte Nase und gute Wangenknochen, aber am besten gefiel mir sein Mund: dunkle, volle, bogenförmig geschwungene Lippen, in die ich am liebsten hineingekniffen hätte.
    »Das ist noch ein Beispiel für den berühmten englischen Humor?« sagte er, und ich nickte und lachte und ließ ihn ausgiebig meine Zähne sehen. Ich vergaß seine erste Ablehnung und bot ihm wieder eine Zigarette an. Er zögerte , und dann akzeptierte er sie mit einer winzigen
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