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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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damit ich dieses Gedicht aufsagte. Er beruhigte sich dann augenblicklich, legte die Pistole weg und fing an, auf mich einzureden:
    »Ist gut, was soll’s, dann bringe ich sie morgen um, elendes Lumpenpack, sag’s noch mal auf für mich ...« Und ich begann wieder und wieder von vorn, bis er schließlich einschlief. Erst dann trauten sich meine Großeltern ins Zimmer und nahmen ihm die Pistole ab.
    Es war ein Gedicht des legendären Puschkin. Darin geht es um einen armen Fischer, in dessen Netz sich die Leiche eines Ertrunkenen verfängt. Aus Angst vor den Konsequenzen wirft der Fischer die Leiche wieder ins Wasser, doch der Geist des Ertrunkenen sucht ihn jede Nacht heim: Solange seine Leiche nicht in der Erde und unter einem Kreuz begraben ist, wird der Geist nicht in Frieden ruhen können.
    Die Geschichte war schön und schauderhaft zugleich, ich weiß gar nicht, warum sie meinem Onkel so gut gefiel.
    Wie dem auch sei, ich schämte mich nicht, vor anderen Gedichte aufzusagen, mir gefiel es sogar, ich kam mir wichtig vor, wie ein Hauptdarsteller.
    Also holte ich tief Luft und begann zu deklamieren, möglichst eindrucksvoll, indem ich den Tonfall variierte und auch Gesten zu Hilfe nahm:

    Kinder kommen voll Entsetzen
    In das Bauernhaus gerannt:
    ›Vater, komm, in unsern Netzen
    Liegt ein toter Mann am Strand.‹
    ›Lügt nur, lügt nur, Teufelsbraten‹,
    Brummt sie hart der Vater an;
    ›Lasst euch jetzt im Guten raten,
    Sonst holt euch der tote Mann! ...
    Frau, den Kaftan: gehn wir ... Nun,
    Sagt, wo ist er?‹ – ›Hier, am Strande!‹
    In der Tat – er tritt heran,
    Und da liegt das Netz im Sande
    Und darin der tote Mann ...

    Als ich fertig war, klatschten alle. Mein Onkel freute sich wie ein Schneekönig, er streichelte meinen Kopf und sagte:
    »Was hab ich euch gesagt? Er ist ein Genie.«
    Der alte Tafelspitz lud uns ein, unter der Pergola Platz zu nehmen, und ging zwei Gläser für uns holen. Da fragte Igel mich:
    »Sag mal, Kolima, hast du eigentlich eine Pika?«
    Bei dem Wort »Pika« begannen meine Augen zu leuchten, und ich wurde plötzlich hellwach wie ein Tiger auf der Jagd: Ich hatte noch keine Pika, keiner meiner Freunde hatte eine, normalerweise bekommt man sie ja erst mit zehn oder zwölf.
    »Pika«, so heißt die traditionelle Waffe der sibirischen Kriminellen: ein Schnappmesser mit langer, dünner Klinge, das in engem Zusammenhang mit zahlreichen Bräuchen und traditionellen Zeremonien unserer Verbrechergemeinschaft steht.
    Eine Pika kann man nicht kaufen, man kriegt sie auch nicht, weil’s einem so passt: Man muss sie sich verdienen.
    Ein junger Krimineller kann die Pika von jedem beliebigen erwachsenen Kriminellen geschenkt bekommen, solange es kein Verwandter ist.
    Nach der Schenkung wird die Pika zu einem persönlichen Kultgegenstand, wie das Kreuz in der christlichen Gemeinde.
    Die Pika besitzt vielfältige Zauberkräfte.
    Wenn jemand krank ist und starke Schmerzen hat, legt man ihm eine geöffnete Pika unter die Matratze, mit ausgefahrener Klinge, damit diese in den Schmerz schneidet und ihn wie ein Schwamm aufsaugt. Und wenn später ein Feind von dieser Klinge getroffen wird, strömt der aufgenommene Schmerz in die Wunde und verursacht ihm noch größere Schmerzen.
    Bei einer Geburt wird die Nabelschnur mit einer Pika durchtrennt, die vorher eine Nacht offen an dem Ort, wo die Katzen schlafen, liegen muss.
    Wenn zwischen zwei Männern wichtige Dinge besiegelt werden – eine Waffenruhe, eine Freundschaft oder eine Verbrüderung –, dann schneiden sich die Kriminellen mit ein und derselben Pika in die Hand, und die Pika wird dann von einem Dritten aufbewahrt, der so zum Zeugen ihrer Abmachung wird: Wer die Waffenruhe bricht, wird mit dieser Pika getötet.
    Stirbt ein Krimineller, zerstört ein Freund seine Pika: Die Klinge wird mit ins Grab gelegt, gewöhnlich unter den Kopf des Toten, und den Griff bewahren die engstenVerwandten auf. Wenn es nötig ist, mit dem Toten in Verbindung zu treten, ihn um Rat oder ein Wunder zu bitten, holen die Verwandten den Griff hervor und legen ihn in den roten Winkel, unter die Ikonen. Auf diese Weise wird der Tote zur direkten Brücke zwischen den Lebenden und Gott.
    Eine Pika behält ihre Kräfte nur in der Hand eines sibirischen Kriminellen, der sie unter Beachtung der kriminellen Gesetze gebraucht; bemächtigt sich eine unwürdige Person einer fremden Pika, bringt sie ihm Unglück: Daher unsere Redensart »etwas verderben wie die Pika, die dem
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