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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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S oll man nicht machen, ich weiß, aber ich gebe der Versuchung trotzdem nach und fange mit dem Ende an. Zum Beispiel mit dem Tag, an dem wir durch die Zimmer eines zerstörten Hauses rannten und von so nah auf den Feind schossen, dass wir ihn fast mit der Hand berühren konnten.
    Wir waren völlig fertig. Die Fallschirmjäger wechselten sich ab, aber wir Saboteure hatten seit drei Tagen nicht geschlafen. Wir machten immer weiter, wie die Wellen im Meer, damit der Feind nicht ausruhen, Manöver ausführen, sich gegen uns organisieren konnte. Wir kämpften dauernd, die ganze Zeit.
    An diesem Tag kam ich zusammen mit Schuh bis ins oberste Stockwerk des Gebäudes, wo das letzte schwere MG ausgeschaltet werden musste. Wir warfen zwei Handgranaten.
    Der Staub, der von der Decke fiel, nahm uns die Sicht, und plötzlich standen wir vier Feinden gegenüber, die wie blinde Kätzchen in der schmutzig grauen, nach Trümmern und verbranntem Sprengstoff stinkenden Wolke herumirrten, wie wir.
    Aus so großer Nähe hatte ich hier in Tschetschenien noch auf niemanden geschossen.
    Unterdessen hatte unser Hauptmann im ersten Stock ganz allein acht Feinde eliminiert und einen Gefangenen gemacht.
    Als wir das Gebäude verließen, war ich wie betäubt. Hauptmann Nosov befahl Moskau, auf den arabischen Gefangenen aufzupassen, während er, Kelle und Zenit sich den Keller vornahmen.
    Ich setzte mich neben Moskau auf die Treppe, demverängstigten Gefangenen gegenüber, der uns die ganze Zeit etwas mitzuteilen versuchte. Moskau achtete nicht auf ihn, er war todmüde, wie wir alle. Kaum hatte der Hauptmann ihm den Rücken zugedreht, zog Moskau die Pistole aus der Jacke, eine österreichische Glock, die er erbeutet hatte, und schoss dem Gefangenen unverfroren in Kopf und Brust.
    Der Hauptmann drehte sich um, sagte aber nichts. Er schaute ihn nur nachsichtig an.
    Moskau hockte sich neben den Toten und schloss in einem Anfall von Müdigkeit die Augen.
    Der Hauptmann sah uns an, als sähe er uns zum ersten Mal, und sagte:
    »Es reicht, Männer. Alle ins Auto, ab hinter die Front, ausruhen.«
    Wie Zombies setzten wir uns einer nach dem anderen in Bewegung, Richtung PKWs. Mein Kopf war so schwer, dass ich dachte, er würde platzen, wenn ich stehenbliebe.
    Wir kehrten hinter die Front zurück, in die Zone, die von unseren Infanteristen kontrolliert und verteidigt wurde. Wir schliefen sofort ein, ich schaffte es nicht mal mehr, Jacke und Packtaschen abzulegen, versank einfach in Dunkelheit, wie ein Toter.
    Kurze Zeit später stieß Moskau mir mit dem Schaft seiner Kalaschnikow auf Brusthöhe gegen die Jacke und weckte mich.
    Langsam und lustlos öffnete ich die Augen und schaute mich um. Ich hatte Mühe, mich zu erinnern, wo wir waren. Alles war verschwommen.
    Moskau machte ein müdes Gesicht, er kaute ein Stück Brot. Draußen war es dunkel, unmöglich herauszufinden, wie spät es war. Ich schaute auf meine Uhr, aber ich konnte nicht mal die Zahlen erkennen, alles war wie vernebelt.
    »Was ist los, wie lange haben wir geschlafen?«, fragte ich Moskau matt.
    »Gar nicht, Bruder ... Und ich glaub, wir werden noch eine ganze Weile wach bleiben müssen.«
    Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und versuchte Kraft zu sammeln, um aufzustehen und nachzudenken. Ich musste schlafen, ich war entsetzlich müde. Meine Uniform war dreckig und feucht, die Jacke stank nach Schweiß und frischer Erde, ich sah aus wie ein Penner.
    Moskau ging die anderen wecken:
    »Los, Männer, es geht sofort los ... Unser Typ wird verlangt.«
    Alle waren verzweifelt, keiner wollte aufstehen. Jammernd und fluchend kamen sie auf die Füße.
    Hauptmann Nosov ging mit dem Hörer am Ohr herum, und ein Infanterist folgte ihm wie ein Haustier, im Rucksack das Funkgerät. Der Hauptmann war wütend, immer wieder sagte er zu irgendwem über Funk, dass das die erste Pause seit drei Tagen für uns sei, dass wir erschöpft seien. Ohne Erfolg: Plötzlich rief Nosov in einem Stakkato, das an Steptanz erinnerte:
    »Jawohl, Genosse Oberst! Bestätigung, Befehl erhalten!«
    Sie schickten uns wieder ganz nach vorn.
    Ich wollte nicht mal daran denken.
    Ich ging zu einer Blechtonne mit Wasser und tauchte die Hände hinein: Das Wasser war schön kühl, mich schauderte leicht. Ich tauchte mit dem ganzen Kopf ein, hielt den Atem an und blieb so eine Weile.
    Unter Wasser öffnete ich die Augen und sah vollkommene Dunkelheit. Plötzlich bekam ich Angst, zog schnell den Kopf heraus und atmete durch.
    Die
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