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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Dunkelheit in der Tonne hatte mich erschreckt: Genau so, kam es mir vor, könnte der Tod sein – dunkel und ohne Luft.
    Ich stand da, über die Tonne gebeugt, betrachtete die Wasserfläche, auf der das Spiegelbild meines Gesichts tanzte – und des Lebens, das ich bis dahin geführt hatte.

Acht Dreiecke und ein Schnappmesser

    I n Transnistrien ist der Februar der kälteste Monat des Jahres. Es bläst ein kräftiger Wind, die Luft sticht in die Haut; wer hinausgeht, wickelt sich ein wie eine Mumie, die Kinder sehen aus wie Matrjoschkas, sie werden in zig Kleiderschichten verpackt, und die Schals lassen nur die Augen frei.
    Normalerweise schneit es viel, die Tage sind kurz, und es wird sehr früh dunkel.
    In diesem Monat wurde ich geboren. Ich war so mickrig, dass man mich im alten Sparta zweifellos eliminiert hätte. Stattdessen kam ich in den Brutkasten.
    Ich wurde im achten Monat geboren, mit den Füßen voran und weiteren Komplikationen. Eine Krankenschwester, die es gut meinte, sagte zu meiner Mutter, sie müsse sich damit abfinden, dass ich es nicht lange machen würde. Meine Mutter weinte, während sie mit einem Apparat ihre Milch abpumpte, die mir dann in den Brutkasten gereicht wurde. War bestimmt keine fröhliche Zeit für sie.
    Vielleicht um daran anzuknüpfen, machte ich von Geburt an meinen Eltern (besser gesagt meiner Mutter, denn meinem Vater war eigentlich alles egal, er lebte sein Verbrecherleben, raubte Banken aus und verbrachte viel Zeit im Knast) eine Menge Kummer und vermieste ihnen das Dasein. Ich weiß gar nicht mehr, was ich als Kind alles angestellt habe. Aber das ist eigentlich nur logisch, schließlich bin ich in einem verruchten Viertel geboren, dort, wo sich in den Dreißigerjahren die Kriminellen angesiedelt hatten, die aus Sibirern verbannt worden waren. Dort, in der Stadt Bender, unter den Kriminellen, war meine Welt, und unser hochgradig kriminelles Viertel war wie eine Großfamilie.Als Kind interessierte ich mich nicht für Spielsachen. Schon mit vier oder fünf schlich ich lieber durchs Haus und versuchte den Moment abzupassen, wenn Großvater oder Onkel die Waffen auseinandernahmen und reinigten. Das taten sie häufig, mit Sorgfalt und Hingabe, denn sie hatten wahrhaft eine Menge davon. Waffen, pflegte mein Onkel zu sagen, sind wie Frauen, wenn man ihnen nicht genug Aufmerksamkeit schenkt, werden sie kalt und betrügen einen.
    Wie in allen sibirischen Häusern wurden die Waffen auch bei uns an genau festgelegten Orten aufbewahrt. Die »eigenen« Pistolen, also die, die die sibirischen Kriminellen immer bei sich tragen, die sie im Alltag benutzen, haben ihren Platz im »roten Winkel«, wo die Ikonen der Familie sowie die Fotos der verstorbenen Verwandten und all jener, die eine Gefängnisstrafe absitzen, hängen. Unter den Ikonen und den Fotos befindet sich eine Art Konsole, die mit rotem Stoff bedeckt ist und auf der rund ein Dutzend sibirische Kruzifixe liegen. Wenn ein Krimineller nach Hause kommt, geht er als erstes zum roten Winkel, zieht die Pistole und legt sie auf die Ablage, danach bekreuzigt er sich und legt ein Kruzifix auf die Pistole. Dieser alte Brauch stellt sicher, dass in den sibirischen Häusern keine Waffen benutzt werden: Falls doch, könnte man in diesem Haus nicht länger leben. Das Kruzifix ist eine Art Siegel, das nur gebrochen wird, wenn der Kriminelle das Haus verlässt.
    Die eigene Pistole, die einen Namen tragen kann wie »Geliebte«, »Tante«, »Stamm« oder »Strick«, besitzt im Allgemeinen keine tiefere oder besondere Bedeutung. Im Gegensatz zur »Pika«, dem traditionellen Messer, ist sie kein Kultobjekt, sondern wird wie eine gewöhnliche Waffe behandelt: Die Pistole ist ein Arbeitsgerät.
    Neben den eigenen bewahrt der sibirische Kriminelleim Haus noch weitere Waffen auf. Diese werden in zwei große Kategorien unterteilt: die »ehrbaren« und die »sündigen«. »Ehrbar« sind die Waffen, die ausschließlich für die Jagd im Wald benutzt werden. In der sibirischen Ethik ist die Jagd ein Reinigungsprozess, mit dessen Hilfe ein Mensch zu dem Zustand zurückkehrt, in dem Gott ihn erschuf. Die Sibirer jagen nie aus Spaß, sondern nur um ihren Hunger zu stillen und nur wenn sie in den tiefen Wald vordringen, in ihrer Heimat, der Taiga. Nie an Orten, wo man sich Essen besorgen kann, ohne wilde Tiere töten zu müssen. Wenn die Sibirer sich eine Woche im Wald aufhalten, töten sie oft nur ein einziges Wildschwein, die übrige Zeit laufen sie. Bei der
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