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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mein Vater mir mit fester Hand die Leviten las. Ich hatte gegen drei heilige Regeln verstoßen: Ich hatte ohne die Erlaubnis eines Erwachsenen eine Waffe angefasst; ich hatte sie an mich genommen, als sie im roten Winkel lag, hatte das Kruzifix angefasst, das Großvater darauf gelegt hatte (nur derjenige, der das Kruzifix auf eine Waffe legt, darf es auch wieder fortnehmen); und schließlich hatte ich versucht, im Haus zu schießen.
    Nachdem mein Vater mir die Leviten gelesen hatte, brannten Hintern und Rücken, und ich ging wie immer zu Großvater, um mich trösten zu lassen. Großvater war ernst, doch das leise Lächeln, das ab und zu über sein Gesicht huschte, musste etwas bedeuten; vielleicht waren meine Probleme doch nicht so schwerwiegend, wie es den Anschein hatte. Er hielt mir eine lange Ansprache, die im wesentlichen besagte, dass ich etwas sehr Törichtes getan hatte. Als ich ihn fragte, weshalb die Zauberpistole nicht von allein auf die Polizisten geschossen hatte, antwortete er, dass die Magie nur funktioniert, wenn die Pistole für eine vernünftige Sache eingesetzt wird – und mit Erlaubnis der Erwachsenen. Da keimte in mir der Verdacht, dass Großvaters Darstellung möglicherweise ein bisschen wirklichkeitsfern war, die Vorstellung einer Zauberkraft, die nur mit Erlaubnis der Erwachsenen funktioniert, gefiel mir gar nicht ...
    Seitdem dachte ich nicht mehr über Magie nach, sondern konzentrierte mich darauf, wie Onkel und Großvater mit den Pistolen hantierten, und entdeckte dann auch bald die Funktionsweise jenes wichtigen Bestandteils einer jeden Waffe, der als »Sicherung« bekannt ist.In der sibirischen Gemeinschaft lernt man das Töten von klein auf. Unsere Lebensphilosophie ist eng mit dem Tod verbunden, den Kindern wird beigebracht, dass Gefahr und Tod Teil der Existenz sind und dass es daher normal ist, jemandem das Leben zu nehmen oder zu sterben, wenn es einen vernünftigen Grund dafür gibt. Es ist unmöglich, anderen das Sterben beizubringen, weil es kein Zurück mehr gibt, wenn man es einmal durchgemacht hat, und aus dem Jenseits angerufen und berichtet, wie’s einem da so geht, hat auch noch keiner. Dagegen ist es nicht schwer zu lehren, wie man mit dem drohenden Tod lebt, wie man das Schicksal »versucht«. Viele sibirische Märchen handeln von der tödlichen Begegnung zwischen Kriminellen und Vertretern der Staatsmacht, von den Gefahren, denen man sich täglich mit Würde und Anstand stellen muss, vom Glück derer, die sich am Ende die Beute geschnappt und überlebt haben, und vom »frommen Gedenken« an jene, die gestorben sind, weil sie in kritischer Lage ihre Freunde nicht im Stich gelassen haben. Durch diese Geschichten nehmen die Kinder jene Werte auf, auf denen das Leben der sibirischen Kriminellen beruht: Respekt, Mut, Freundschaft, Hingabe. Mit sechs, sieben Jahren legen die sibirischen Kinder eine Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit an den Tag, um die sie sogar Erwachsene aus anderen Gemeinschaften beneiden. Und auf diesem Fundament baut die Erziehung zum Töten auf, zur physischen Aktion gegen ein anderes Lebewesen.
    Gewöhnlich nimmt der Vater den Sohn von klein auf mit, damit er zusieht, wie die Hoftiere getötet werden: Hühner, Gänse, auch mal ein Schwein. So gewöhnt sich das Kind an das Blut, an die Details des Tötens. Später, mit sechs oder sieben Jahren, darf das Kind zum ersten Mal selbst ein kleines Tier töten. In diesem Erziehungsprozess ist kein Platz für falsche Regungen wie Sadismus oderGemeinheit. Das Kind muss so erzogen und angeleitet werden, dass es volle Bewusstheit über sein Tun erlangt, und vor allem über Motive und Bedeutung hinter diesem Tun.
    Wenn man ein größeres Tier tötet, ein Schwein, einen Ochsen oder eine Kuh, darf das Kind am toten Tier üben, damit es lernt, wie man mit dem Messer richtig zustößt. Mein Vater nahm mich und meinen Bruder oft mit in eine große Schlachterei und brachte uns anhand der am Haken hängenden Schweine bei, wie man mit dem Messer umgeht. Bei so viel Übung wird eine Hand entschlossen und geschickt.
    Etwa mit zehn wird ein Junge in den Klan der Heranwachsenden aufgenommen, der den erwachsenen Kriminellen der sibirischen Gemeinschaft aktiv zur Hand geht. Dort hat er Gelegenheit, zum ersten Mal die verschiedenen Aspekte des Verbrecherlebens aus der Nähe kennenzulernen. Die Älteren bringen den Jüngeren bei, wie sie sich verhalten müssen; in Prügeleien und Konflikten und Auseinandersetzungen mit dem
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