Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
beisammensitzt?«
    Großvaters Rede wurde nun zu etwas, das die Kriminellen »Lied« nennen, eine extreme Form der Kommunikation mit den Polizisten, bei der ein Krimineller zu reden beginnt, als würde er mit sich selber sprechen. Mit anderen Worten: Großvater machte seinem Herzen Luft, ohne sich darum zu kümmern, auf eventuelle Fragen zu antworten oder irgendeinen Kontakt herzustellen. Das Lied kommt immer dann zum Zug, wenn man den Polizisten davon überzeugen will, dass das, was man sagt, die reine Wahrheit ist, nichts als die Wahrheit.
    »Warum sehe ich ehrlose Leute mit vermummten Gesichtern? Warum kommt dieses finstere Pack hierher und entehrt mein Haus und das Vertrauen meiner Familienangehörigen und meiner Gäste? Hierher, zu uns einfachen, demütigen Leuten, uns Dienern des Herrn und der orthodoxen Mutter Kirche Sibiriens, warum kommtdieser Auswurf Satans hierher, um die Herzen unserer geliebten Frauen und unserer lieben Kinder zu verletzen?«
    In diesem Augenblick kam ein Polizist ins Zimmer gerannt und wandte sich an seinen Vorgesetzten:
    »Genosse Hauptmann, bitte Meldung machen zu dürfen!«
    »Meldung machen«, antwortete ein kleiner untersetzter Mann mit einer Stimme, die aus dem Jenseits zu kommen schien. Er zielte mit dem Gewehr auf das Genick meines Vaters, der mit zynischem Lächeln seelenruhig seinen Tee weitertrank und mit leisem Krachen die hausgemachten Nusskaramellen meiner Mutter zerkaute.
    »Draußen sind lauter Bewaffnete, sie haben alle Zufahrten blockiert und die Patrouille als Geisel genommen, die die Fahrzeuge bewachen sollte!«
    Stille senkte sich über das Zimmer, eine lange, lastende Stille. Nur zwei leise Geräusche waren zu hören: das der Bonbons, die mein Vater zerbiss, und das leise Pfeifen aus der kaputten Lunge von Onkel Witalij.
    Ich beobachtete die Augen eines Polizisten, der neben mir stand. Durch die Löcher in der Kapuze sah man, wie er schwitzte und bleich wurde. Es erinnerte mich an das Gesicht der Leiche, die meine Freunde ein paar Monate zuvor aus dem Fluss gezogen hatten: die Haut ganz weiß mit schwarzen Adern, und die Augen wie zwei tiefe, schmutzige Löcher; auch in der Stirn hatte er ein Loch, jemand hatte ihn in den Kopf geschossen. Der Polizist hier hatte zwar nirgends ein Loch, aber ich glaube, dass wir beide, er und ich, in diesem Augenblick genau das gleiche dachten: nämlich dass auf seiner Stirn bald ein schönes Loch sein würde, wobei diese Vorstellung auf mich persönlich keinerlei Eindruck machte, während sich mein Nachbar unter der Kapuze sichtlich sorgte.
    Plötzlich ging die Haustür auf, der Polizist, der die fatale Meldung gemacht hatte, wurde grob beiseite gestoßen, und einer nach dem anderen kamen sechs bewaffnete Männer herein, Freunde von Vater und Großvater. Der erste war Onkel Balken, der auch Wart unseres Viertels war, die anderen waren seine besten Leute. Großvater scherte sich jetzt überhaupt nicht mehr um die Polizisten; er stand auf und ging Balken entgegen.
    »Heiliger Jesus Christus und alle gesegneten Anverwandten!«, sagte Balken, umarmte Großvater und drückte voller Zuneigung dessen Hand. »Großvater Boris, dem Himmel sei Dank, dass hier keinem was passiert ist!«
    »Sieh dich um, Balken, was für Zeiten! Nicht mal in unseren Häusern haben wir unsere Ruhe!«
    Balken berichtete Großvater nun, was vorgefallen war, aber eigentlich waren seine Worte für die Ohren der Polizisten bestimmt.
    »Nicht verzweifeln, Großvater Boris! Wir stehen dir bei, wie immer, in glücklichen wie in schwierigen Momenten ... Ohne unsere Erlaubnis betritt oder verlässt niemand unser Haus, mein lieber Freund, das weißt du, vor allem dann, wenn er mit unehrenhaften Absichten kommt ...«
    Nun umarmte Balken einen nach dem anderen die anwesenden Kriminellen, küsste sie auf die Wangen und begrüßte sie auf typisch sibirische Art:
    »Friede und Gesundheit allen ehrbaren Brüdern und Männern!«
    Die anderen antworteten, wie es Brauch war:
    »Tod und Fluch allen Kötern und Lumpen!«
    Den Polizisten blieb nichts anderes übrig, als dieser bewegenden Begrüßungszeremonie beizuwohnen. Ihre Gewehre hatten sie inzwischen sinken lassen, und ihre Köpfe auch.
    Balken wandte sich an die anwesenden Frauen und forderte die Polizisten über sie auf, das Haus zu verlassen.
    »Ich wünsche, dass die anwesenden Köter dieses Haus sofort verlassen und nie mehr wiederkommen. Ihre Freunde, die wir vorhin gefangen genommen haben, behalten wir hier, wir lassen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher