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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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um!«
    Er gab mir noch ein paar Tritte, dann streckte er mir die Hand hin und half mir beim Aufstehen. Er brachte mich zu einem Gebäude mit vergitterten Fenstern und gepanzerten Türen. Wie im Gefängnis.
    Wir gingen hinein, drinnen war es ziemlich dunkel, alles wirkte grau und schmutzig, ungepflegt, verkommen. Am Ende eines kleinen, engen Gangs mit drei gepanzerten Türen tauchte ein Soldat auf, um die zwanzig, dünn, aber mit offenem Gesicht. In den Händen hatte er einen großen Schlüsselbund, mit dem er unaufhörlich hantierte und ein seltsam rasselndes Geräusch erzeugte, das mich in meiner hoffnungslos deprimierenden Lage fast zum Heulen gebracht hätte. Der Soldat schloss eine Tür auf, und der Unteroffizier führte mich in einen winzigen, schmalenRaum mit einem vergitterten Fenster. An der Wand war eine Holzpritsche befestigt.
    Ich sah mich um und konnte es nicht glauben. So einfach war das also: Von einem Moment auf den anderen war ich in einer Zelle gelandet.
    Im Befehlston sagte der Unteroffizier zu dem Soldaten, der offensichtlich eine Art Wache war:
    »Zum Abendessen bekommt er dasselbe wie alle anderen, aber Vorsicht: Er ist gewalttätig ... Geh nie allein mit ihm zur Toilette, weck lieber deinen Kameraden, damit ihr zu zweit seid, der Kerl ist gefährlich, er hat die Wache am Tor angegriffen, wollte ihr das Maschinengewehr abnehmen.«
    Der Soldat mit dem Schlüsselbund musterte mich scheu: Es war klar, dass er mich möglichst schnell hinter Schloss und Riegel bringen wollte.
    Der Unteroffizier starrte mich an und sagte:
    »Du bleibst hier und wartest!«
    Ich starrte zurück, ohne meinen Hass zu verbergen.
    »Worauf denn, was hat das alles zu bedeuten?«
    »Auf das Ende der Welt, Mistkerl! Wenn ich dir befehle zu warten, dann wartest du gefälligst, und keine Fragen mehr. Hier entscheide ich, worauf du wartest!«
    Er gab dem Soldaten ein Zeichen, die Tür zu schließen, und ging triumphierend davon.
    Bevor er mich einschloss, kam der Soldat zu mir und fragte:
    »Wie heißt du, Kamerad?«
    Seine Stimme klang ruhig und nicht boshaft.
    »Nicolai«, gab ich leise zurück.
    »Ganz ruhig, Nicolai, hier bist du sicherer als bei denen ... Ruh dich aus, in ein paar Tagen bringen sie dich zum Zug, der dich nach Russland fährt, zu deiner Dienstbrigade ... Weißt du schon, wohin du kommst?«
    »Zu den Saboteuren, hat der Oberst gesagt ...«, erwiderte ich matt.
    Der andere stutzte kurz und sagte dann ganz aufgeregt:
    »Die Saboteure! Um Gottes willen, was hast du denn angestellt? Womit hast du das verdient?«
    »Ich hatte eine sibirische Erziehung«, antwortete ich, während sich die Tür schloss.
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