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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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exerzierten.
    »Links, links, eins, zwei, drei!«, brüllte verzweifelt der Ausbilder, ein junger Mann in makelloser Uniform, der mit einem Zug Rekruten marschierte, die offenbar keine große Lust zum Exerzieren hatten.
    »Nicolai, mein Sohn, komm herein!«, rief eine grobe Männerstimme, die trotz des freundlich säuselnden Tons etwas Falsches an sich hatte, ein unheilvoller Unterton klang durch.
    Ich ging zur Tür, klopfte an und fragte, ob ich eintreten dürfe.
    »Immer herein mit dir, mein Sohn!«, tönte die freundliche Stimme. Sie gehörte zu einem sehr kräftigen Mann, der an einem riesigen Schreibtisch saß.
    Ich trat ein, schloss die Tür und wollte gerade auf ihn zugehen, als ich plötzlich wie angewurzelt stehenblieb.
    Der Oberst war um die fünfzig und sehr kräftig. Auf seinem kahlrasierten Schädel prangten zwei lange Narben. Die Uniform war ihm zu eng, sein Hals war so dick, dass der Kragen spannte und jeden Augenblick zu platzen drohte. Seine Hände waren so mächtig, dass man die Fingernägel kaum sah, weil sie im Fleisch der Wurstfinger fast versanken. Ein eingerissenes Ohr wies ihn als professionellen Ringkämpfer aus. Sein Gesicht sah aus, als wäre er einem sowjetischen Propagandaplakat aus dem Zweiten Weltkrieg entsprungen: grobe Gesichtszüge, breite, gerade Nase, große, entschlossene Augen. Auf seiner rechten Brust baumelte ungefähr ein Dutzend Orden.
    Gott steh mir bei, der ist ja schlimmer als ein Köter ... Mir schwante, wie dieses Treffen ausgehen würde. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, bei so einem hatte ich eh keine Chance, zu sagen, was ich eigentlich sagen wollte.
    Plötzlich, während er noch in eine Mappe blickte, die genauso aussah wie die, in denen die Köter Informationen über Kriminelle sammeln, begann er zu reden und riss mich aus meinen Gedanken.
    »Ich lese hier deine Geschichte, mein lieber Nicolai, und ich muss sagen, du gefällst mir immer besser. In der Schule warst du keine große Leuchte, eigentlich warst du überhaupt kaum da, dafür hast du trainiert, sogar in vier verschiedenen Sportarten ... Das ist gut, auch ich habe in meiner Jugend viel Sport getrieben, Lernen ist was für Eierköpfe, echte Männer treiben Sport, bereiten sich auf den Kampf vor ... Du hast Ringen, Schwimmen, Marathon und sogar Bogenschießen trainiert ... Sehr gut, das sind die besten Voraussetzungen, ich glaube, du wirst es in der Armee weit bringen ... Nur einen kleinen Schönheitsfleck gibt es. Du hast zwei Vorstrafen, wofür? Hast du gestohlen?« Er sah mir durchdringend in die Augen, und hätte er gekonnt, hätte er mir auch ins Gehirn geschaut.
    »Nein, ich habe nichts gestohlen, ich bestehle niemanden ... Ich habe zweimal jemanden verprügelt, angeklagt wurde ich wegen ›versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung‹.«
    »Macht nichts, mach dir deshalb keine Sorgen ... Ich habe mich früher auch geprügelt, das kann ich sehr gut verstehen! Männer müssen sich ihren Platz in der Welt erobern, um sich zu beweisen, und das geht am besten bei einer Schlägerei, da stellt sich schnell heraus, wer was taugt und wer nicht.«
    Er redete, als wollte er mir einen Preis verleihen. Ichwar unschlüssig, ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, vor allem nicht, wie ich ihm erklären sollte, dass ich unter gar keinen Umständen Wehrdienst leisten wollte.
    »Hör zu, mein Sohn, deine Vorstrafen, deine Gerichtsverfahren und der ganze Rest interessieren mich nicht. Für mich bist du ein anständiger Junge, Gott schütze dich, und ich werde dir helfen, weil du mir sympathisch bist. Alles was du gemacht hast, habe ich hier schriftlich, dein ganzes Leben seit dem ersten Schultag.« Er schlug die Mappe zu, verschnürte die Bänder und legte sie auf den Tisch. »Ich lasse dir die Wahl, was ich nur bei Menschen tue, die mir besonders am Herzen liegen. Entweder schicke ich dich zu den Grenztruppen, an die Grenze zu Tadschikistan: Da kannst du Karriere machen, und wenn du gern auf Berge steigst, bist du da genau richtig. Oder ich schicke dich zu den Fallschirmjägern, das ist was für Profis: In einem halben Jahr bist du Unteroffizier, und Karriere kannst du da auch machen, nach einer gewissen Zeit kannst du dich zu den Spezialeinheiten melden, selbst mit deiner Vergangenheit. Die Armee wird dir alles geben: Geld, Wohnung, Freunde und eine Beschäftigung auf deinem Niveau. Also was meinst du, wohin möchtest du lieber?«
    Ich hatte das Gefühl, völlig sinnloses Zeug zu
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