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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Herrn gesegnet und leistete keinen Widerstand, obwohl wir gegen die Strömung fuhren. Der Motor schnurrte und setzte kein einziges Mal aus: Alles war perfekt, echt Postkarte.
    Als wir ankamen, aßen wir erst mal zu Mittag. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken und wurde dadurch gutmütiger als sonst, so dass ich zum x-ten Mal Mel als Partner akzeptierte, der glücklich war, dass er nicht allein zurückbleiben musste, was auch schon vorgekommen war.
    Ich war so entspannt, dass ich ihm sogar erlaubte, den Hammer zu halten. »Erlaubt« ist eigentlich nicht ganz das richtige Wort, denn er setzte sich in mein Boot, nahm ohne zu fragen einfach den Hammer und sah mich an, als wenn nichts wäre. Ich sagte nichts, drohte nur mit derFaust, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich auf etwas gefasst machen könne, wenn er danebenhaute.
    Dann fuhren wir los, jedes Boot für sich, auf einen eigenen See: Beim Welsfang musste man allein sein, sonst wären die anderen leer ausgegangen, denn sobald die Fische einen Schlag hörten, tauchten sie sofort wieder ab, um sich zu verstecken.
    Die Nacht war schön, der Himmel voller Sterne, und in der Mitte wogte ein dünner weißer Schleier, der zauberhaft glitzerte und blinkte. In der Ferne hörte man den Wind über die Felder rauschen, und manchmal kam ein langes, dünnes Pfeifen näher, als würde er zwischen uns hindurchwehen. Der Geruch des Flusses mischte sich mit dem nach Wald und veränderte sich ständig, manchmal roch es nach Akazien, dann nach Linden, dann wieder nach Moos, das am Flussufer wuchs. Die Frösche sangen im Chor ihre Serenaden, ab und zu tauchte ein Fisch auf und machte ein schönes Geräusch, ein Platsch! im Wasser. Plötzlich traten drei kleine Hirsche aus dem Wald, um zu trinken: Zuerst machten sie ein schmatzendes Geräusch mit der Zunge, dann hörte man ein Niesen wie von Pferden.
    Ich war wie verzaubert, das waren die schönsten Augenblicke meines Lebens: Hätte man mich gefragt, wie ich mir das Paradies vorstelle, hätte ich bestimmt gesagt, so wie diesen Augenblick, aber in alle Ewigkeit.
    Das einzige, was mich daran hinderte, mit allen Sinnen in unerreichbare himmlische Höhen aufzusteigen, war die Anwesenheit von Mel: Sobald ich ihn ansah, erfasste mich wieder ein bleischwerer Realitätssinn, und ich begriff, dass ich mich nicht vollkommen von meiner groben sterblichen Hülle befreien konnte, solange dieses Subjekt – diese Strafe, zu der mich das Schicksal verdammt hatte – an meiner Seite war.
    »Halt bloß die Klappe, Mel, sonst schlage ich dir mit dem Hammer den Schädel ein ...«, sagte ich und begann langsam zu rudern, um nicht allzu viel Lärm zu machen.
    Mel war total konzentriert; er saß in der Mitte des Boots und umklammerte mit beiden Händen den Hammer, als hätte er Angst, er könne ihm entgleiten.
    Als wir in der Mitte des Sees waren, holte ich eine alte Unterwasserlampe hervor. Ich schaltete das Licht ein, beugte mich über den Bootsrand und ließ die Lampe ganz langsam ins Wasser hinab. Unter Wasser wurde es hell, das Licht leuchtete bis in eine Tiefe von etwa zehn Metern, und man konnte viele Details erkennen, kleine Fische, die wie in einer Ehrenrunde um die Lampe herumtanzten.
    Mel stand über mir, den Hammer in der Hand. Er wartete auf mein Zeichen.
    Normalerweise sieht man zuerst einen großen Schatten, wenn ein Wels vom Grund aufsteigt. Dann muss man die Lampe hochziehen, ganz langsam und ohne Lärm zu machen, damit der Wels dem Licht folgt, ohne es je zu erreichen. Wenn die Lampe aus dem Wasser gezogen wird, kommt der große Moment: Der Mann mit dem Hammer muss mit aller Kraft zuschlagen, genau an der Stelle, wo zuvor die Lampe war, um den Wels richtig zu treffen. Wenn man nur eine Sekunde zu spät dran war und der Wels es schaffte, die Lampe zu berühren, tauchte er sofort ab, denn Welse sind feige und fürchten sich davor, unbekannte Dinge zu berühren. Bei dieser Fangtechnik kam es also vor allem darauf an, die Bewegungsabläufe perfekt aufeinander abzustimmen.
    Aufmerksam beobachtete ich das Wasser, als ich plötzlich einen Schatten vom Grund heraufkommen sah. Sofort begann ich die Lampe hochzuziehen. Hinter mir hob Mel den Hammer.
    Kein Zweifel, das war ein Wels, der ziemlich schnell nach oben schwamm. Ich musste nur schnell genug die Lampe einziehen.
    Als ich sie fast oben hatte und nur noch ein kleines Stück im Wasser war, schlug Mel zu, und zwar mit solcher Macht, dass es mir in den Ohren gellte, als wäre eine
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