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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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um sie später zum Massieren zu verwenden. Ich mischte Kiefern- und Lindenessenz und machte einen Aufguss, um den würzigen Dampf einzuatmen. Ich kochte mir zwei Liter Kräutertee aus Hagebutte, Lindenblüten, Pfefferminz und Kirschblüten. Ich verbrachte den ganzen Tag in der Sauna, lag nackt auf den Holzplanken, auf denen ich langsam gegart wurde. Eingehüllt in den aromatischen Dampf, trank ich ab und zu in großen Schlucken von dem kochendheißen Kräutertee, ohne zu merken, wie er brannte.
    In der Nacht schlief ich wie besinnungslos, als wäre ich in ein großes Loch gefallen. Am nächsten Tag wachte ich auf und verließ das Haus, ich öffnete den Briefkasten, um zu sehen, ob Post gekommen war, und fand einen weißen Zettel mit einer roten Zeile, die schräg über das Blatt lief, von einer Ecke zur anderen. Darauf stand, dass die Russische Föderation mich aufforderte, mitsamt Ausweis zur Musterung zu erscheinen. Dies sei die dritte und letzte Aufforderung, und wenn ich nicht innerhalb von drei Tagen vorstellig würde, drohe mir eine Verurteilung wegen, so wörtlich, »Verweigerung der Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland in Form des Militärdienstes«.
    Ich hielt den Wisch für lächerlich, eine reine Formalität, ohne Bedeutung. Ich ging nach Hause, nahm meinen Ausweis und machte mich, ohne mich auch nur umzuziehen, in Hausschuhen auf den Weg zu der angegebenen Adresse, am anderen Ende der Stadt, wo sich eine alte russische Militärbasis befand.
    Am Eingang zeigte ich den Wachposten meinen Brief, und sie öffneten schweigend das Tor.
    »Wohin muss ich gehen?«, fragte ich einen.
    »Immer geradeaus, ist sowieso egal ...«, antwortete mir ein Soldat ohne große Begeisterung und sichtlich genervt.
    »Idiot«, dachte ich noch und ging zu einem Büro mit dem Schild: »Abteilung Wehrdienst und Neuzugänge«.
    In dem Büro war es stockfinster, man konnte fast nichts erkennen. Ganz hinten war ein kleines Fenster in der Wand, ein Schalter, durch den ein schwaches, gelbes, deprimierendes Licht sickerte. Zu hören war nur das Klappern einer Schreibmaschine.
    Als ich näher kam, sah ich eine junge Frau in Uniform, die an einem kleinen Tisch saß, mit einer Hand auf der Schreibmaschine tippte und in der anderen ein Teeglas hielt. Sie nippte an dem heißen Tee und pustete häufig in das Glas, damit er schneller abkühlte.
    Ich lehnte mich über den Tresen und reckte den Kopf: Da sah ich, dass die Frau unter dem Tisch eine aufgeschlagene Zeitschrift auf den Knien hielt und in einem Artikel über russische Musikstars las, mit dem Foto einer Sängerin, die auf dem Kopf eine Krone mit Pfauenfedern trug. Das deprimierte mich noch mehr.
    »Hallo, entschuldigen Sie bitte, ich habe das hier bekommen«, sagte ich und hielt ihr den Zettel hin.
    Die Frau drehte sich zu mir um und sah mich einen Augenblick so verwirrt an, als wüsste sie gar nicht, wo sie sich befand und was hier vorging. Offensichtlich hatte ich sie aus ihren Gedanken und Träumereien herausgerissen. Rasch nahm sie die Zeitschrift und legte sie umgekehrt hinter die Schreibmaschine, so dass ich sie nicht sehen konnte. Dann stellte sie das Teeglas ab und nahm mir ohne aufzustehen schweigend das Blatt mit der roten Zeile aus der Hand. Einen Augenblick starrte sie darauf und fragte dann mit gespenstischer Stimme:
    »Papiere?«
    »Welche Papiere, meine?«, fragte ich plump und zog meinen Pass und den Rest aus der Hosentasche.
    Sie sah mich genervt an und sagte gepresst:
    »Na, meine wohl kaum.«
    Sie nahm meine Papiere entgegen und legte sie in einen Tresor. Dann holte sie ein Formular aus einem Regal und begann es auszufüllen. Vorname, Familienname, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift. Dann kamen persönlichere Fragen. Nachdem sie die Personalien meiner Eltern aufgenommen hatte, sagte sie:
    »Schon mal verhaftet worden, schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«
    »Also, ich bin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber das Gesetz offensichtlich schon mal mit mir ... Verhaftet wurde ich schon x-Mal, ich weiß nicht, wie oft. Und im Jugendgefängnis war ich zweimal.«
    Bei diesen Worten ging eine Veränderung in ihr vor. Sie zerriss das Formular, das sie gerade ausfüllte, und nahm ein anderes, größeres, über das schräg eine rote Zeile lief, wie bei meinem Brief.
    Wir fingen wieder von vorne an, noch einmal sämtliche Personalien, diesmal jedoch auch Details meiner Vorstrafen: Nummer des betreffenden Paragraphen und Datum des Urteils. Dann war der
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