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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten
Autoren: Ralph Westerhoff
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Prolog
     
    Es war stockfinstere Nacht irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, die Nacht vom 16. auf den 17. März. Doch für ihn war es hell. Nicht taghell, aber doch hell genug, dass er den Text lesen konnte.
    Ein Mann hatte ihn überfallen. Er hatte einen Stich wie von einer Wespe oder Hornisse an seinem Hals gespürt, und dann war er ohnmächtig geworden.
    Als er wieder erwachte, konnte er seine Beine nicht mehr spüren. Er litt unsägliche Schmerzen im Rücken und fürchtete, dass er nie wieder würde gehen können. Der Mann hatte ihn wahrscheinlich zum Krüppel gemacht. Er war möglicherweise gelähmt. Doch so schrecklich das auch wäre, es waren nicht die Schmerzen und nicht die Angst vor einem Leben im Rollstuhl, was in ihm Panik auslöste.
    Dicke Kabelbinder bohrten sich in das Fleisch seiner Fuß- und Handgelenke. Er wagte nicht, an das zu denken, was kommen würde.
    Er hatte keine Ahnung, wie es passiert war. Er wusste nur, dass der Mann ihn weggebracht hatte. Weg von der Neptun Werft. Es hatte ihn nach dem Aufwachen halb wahnsinnig gemacht, nicht zu wissen, wo er war, keine Ahnung davon zu haben, was der Mann mit ihm vorhatte.
    Doch nun wurde ihm die schreckliche Wahrheit langsam bewusst. Ein Imperativ stand, eingebrannt in die Sperrholzplatte, etwa dreißig Zentimeter über seinem Kopf. Es war eine massive, dicke Platte. Nicht einmal unverletzt und ohne Kabelbinder an Händen und Füßen hätte er eine Chance, sich zu befreien. Er meinte, noch das Quietschen der Schrauben beim Eindringen in das Holz und das hochfrequente Singen des Akku-Schraubers im Ohr zu haben. Aber da war er doch noch bewusstlos gewesen.
    Wie ein Brandzeichen im Fell eines Pferdes waren sechs Buchstaben in dem Holz über ihm verewigt.
    »BEREUE«, stand da.
    Dann hörte er es, das grauenvolle Geräusch über sich. Das Knirschen der Schaufel, die der Mann in die Erde trieb. Es folgte eine ganz kurze Stille. Die wenigen Sekunden, die es dauerte, bis die Ladung einer Schaufel durch die Luft geflogen war und prasselnd auf dem Deckel des massiven Sarges niederging. Und dann wieder das Knirschen der Schaufel, wieder die Stille, wieder das Prasseln. Die Intensität des Prasselns nahm aber mehr und mehr ab. Die schon vorhandene Erdschicht dämpfte zunehmend das Geräusch der übrigen Schaufelladungen.
    Seinen Kopf konnte er noch bewegen. Links in die Wand des Sarges war eine Halterung geschraubt. Darin steckte eine Taschenlampe, die den engen Raum beleuchtete. Rechts sah er einen weiteren Gegenstand. Ein Babyfon.
    »Gnade«, wollte er in Richtung des Mikrofons winseln. Doch sein Knebel ließ nur unverständliche Presslaute zu. Das rhythmische Prasseln über ihm hörte auf, und ein knarrendes Geräusch kam aus dem Lautsprecher des Gerätes. Dann vernahm er eine eindringliche männliche Stimme.
    »Gnade hat nur der verdient, der auch gnädig ist.«
    Woher wusste der Mann draußen, dass er um Gnade bitten wollte?
    »Kein Erbarmen für Erbarmungslose«, hörte er ihn noch sagen. Kalt, konsequent und unerbittlich. Dann war da wieder nur das knirschende Geräusch der Schaufel und der niederfallenden Erde.
    Er bewegte seinen Kopf etwas nach links und blickte in den Schein der Taschenlampe. Er blendete ihn. Sollte es das letzte Licht sein, das er je in seinem Leben sehen würde? Sollten die Worte »Kein Erbarmen für Erbarmungslose« die letzten sein, die er hören würde? Diese sechs Buchstaben, »BEREUE«, das Letzte, was er lesen würde? Sollte sein Leben damit enden, dass er unter unsäglichen Schmerzen lebendig begraben wurde?
    Der Mann hatte ihm seine Armbanduhr gelassen. Eine aus Gelbgold gefertigte Rolex Datejust im Wert von über zehntausend Euro. Um Geld ging es dem Mann, der über ihm das Grab zuschaufelte, wohl nicht. Deshalb konnte es der, den er zunächst im Verdacht gehabt hatte, nicht sein. Außerdem brauchte derjenige ihn doch.
    Die Uhr glänzte im Schein der Lampe. Seine Hände waren vor seinem Bauch gefesselt. Er konnte die Uhr lesen. Er sollte die Uhr lesen können. Sie zeigte zwei Uhr siebenundfünfzig. Ob es Tag war? Oder war es Nacht? Unsinn. Es war Nacht. Es war jetzt also zwei Stunden her, dass der Mann ihn auf der alten Neptun Werft überwältigt hatte. Außerdem: Wer würde ihn schon am Tage begraben, wo jeder zusehen konnte? Aber … warum denn eigentlich nicht am Tage? Wer so verrückt war, jemanden lebendig zu begraben, der würde es vermutlich auch am Tage tun.
    Warum? Die Frage quälte ihn. Warum wollte ihn der Mann auf
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