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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sibirische Lieder und lachtenzusammen über irgendwelche alten Geschichten. Ich saß neben Großvater auf der Bank, eine Tasse heißen Tee in der Hand, und lauschte den Gesprächen der Erwachsenen. Im Unterschied zu den anderen Gemeinschaften begegnen die Sibirer Kindern mit Respekt und reden in ihrer Gegenwart über alles Mögliche, ohne es mit einer Atmosphäre des Geheimen oder Verbotenen zu umgeben.
    Plötzlich hörte ich die Frauen schreien und gleich darauf nervöse Stimmen: Innerhalb weniger Sekunden war das Haus voller Bewaffneter mit vermummten Gesichtern, die mit Kalaschnikows auf uns zielten. Einer der Männer ging auf Großvater zu, drückte ihm den Gewehrlauf ins Gesicht und schrie mit der Stimme eines Wahnsinnigen:
    »Wo schaust du hin, du alter Bastard? Auf den Boden schauen, hab ich gesagt!«
    Ich fürchtete mich nicht die Bohne, keiner von diesen Männern jagte mir Angst ein, die Tatsache, dass meine gesamte Familie um mich war, gab mir ein Gefühl, als wäre ich stärker als jedes andere Lebewesen. Dafür war ich wütend, wegen der Art, wie dieser Mann mit Großvater umging. Der Tisch, um den wir saßen, war umstellt von Polizisten, die auf uns angelegt hatten. Nach einer kurzen Pause rief Großvater nach Großmutter – ohne dem Polizisten ins Gesicht zu schauen, aber mit hoch erhobenem Kopf:
    »Swetlana! Swetlana! Komm her, Schatz, du musst ein paar Worte von mir an dieses Stück Dreck hier weiterleiten!«
    Der kriminelle Verhaltenskodex verbietet es Sibirern, mit Polizisten zu reden. Es ist verboten, sie anzusprechen, auf ihre Fragen zu antworten oder sonst irgendwie auf sie einzugehen. Der Kriminelle muss sich verhalten, als ob die Polizisten gar nicht da wären, und die Vermittlung einer Familienangehörigen oder einer Nachbarin inAnspruch nehmen, sofern sie ebenfalls aus Sibirien stammt. Der Kriminelle sagt zu der Frau in Verbrechersprache, was er dem Polizisten mitteilen will, und sie wiederholt seine Worte auf Russisch, auch wenn der Polizist alles genau mitanhört, weil er ja danebensteht. Falls der Polizist antwortet, dreht sich die Frau um und übersetzt alles in Verbrechersprache. Der Kriminelle darf dem Polizisten nicht ins Gesicht sehen, und falls er ihn in seiner Rede erwähnt, muss er ihn mit abfälligen Wörtern wie »Dreck«, »Hund«, »Kaninchen«, »Lump«, »Bastard«, »Missgeburt« und so weiter bezeichnen.
    An diesem Abend war Großvater der Älteste im Raum, und wie es krimineller Brauch war, lag das Rederecht daher bei ihm, die anderen mussten still sein und ihn erst um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas sagen wollten. Großvater war berühmt für sein Talent, brenzlige Situationen zu beruhigen.
    Großmutter kam aus der Küche, ein buntes Spültuch in der Hand. Ihr folgte meine Mutter, die außer sich war und meinen Vater die ganze Zeit mit traurigem Blick ansah, als ob er sterben müsste.
    »Gott segne dich, meine liebe Frau, sag diesem Stück Dreck, dass solange ich lebe in meinem Haus niemand mit einem Eisen auf mein Gesicht oder das meiner Freunde zielt ... Frag sie, was sie wollen, und sag ihnen, sie sollen um Christi Liebe willen die Ballermänner runternehmen, sonst machen sie hier noch Löcher in einen von uns.«
    Großmutter begann, dem Polizisten Großvaters Worte zu wiederholen, und obwohl dieser die ganze Zeit nickte, um deutlich zu machen, dass er bereits alles verstanden hatte, ließ sie sich nicht beirren und redete zu Ende, wie es Brauch war. Das wirkte aufgesetzt, doch diese Rolle musste sie spielen, denn hier ging es um die kriminelle Würde.
    »Alle hinlegen, Gesicht auf den Boden, wir haben einenHaftbefehl für ...« Der Polizist konnte den Satz nicht beenden, weil Großvater ihn mit breitem und ein wenig boshaftem Lächeln, seinem üblichen Lächeln, unterbrach und sich an Großmutter wandte:
    »Um der Leiden unseres Herrn Jesus Christus willen, der für uns Sünder gestorben und auferstanden ist! Swetlana, meine Liebe, frag den dämlichen Köter da, ob sie und ihre Flittchen zufällig aus Japan sind.«
    Großvater machte es wie alle Kriminellen, wenn sie Polizisten erniedrigen wollen: Er sprach über sie wie über Frauen. Die Verbrecher brachen in Lachen aus, und Großvater fuhr fort:
    »Ich finde nicht, dass sie wie Japaner aussehen, Kamikaze wollen sie also nicht machen ... Wie können sie glauben, sie könnten bewaffnet ins Herz der Unterstadt eindringen, in das Haus eines ehrbaren Kriminellen, während dieser mit anständigen Leuten friedlich
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