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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Nachwuchs der anderen Gemeinschaften stoßen sich die Jungen die Hörner ab.
    Mit vierzehn, fünfzehn Jahren haben sibirische Heranwachsende oft schon Vorstrafen und damit Bekanntschaft mit dem Jugendgefängnis gemacht: eine sehr wichtige, ja grundlegende Erfahrung für die Formung des Charakters und der individuellen Weltsicht. Viele Sibirer haben in diesem Alter sogar schon einen Mord oder zumindest einen Mordversuch auf dem Buckel. Und alle sind in der Lage, innerhalb der Verbrechergemeinschaft zu kommunizieren, die Grundlagen und Prinzipien des sibirischen Verbrechergesetzes zu befolgen, weiterzugeben und zu bewahren.Einmal rief mein Vater mich in den Garten:
    »Komm her, Barfuß! Und bring ein Messer mit!«
    Ich holte das Küchenmesser, mit dem ich immer Gänse und Hühner schlachtete, und rannte hinaus in den Garten. Unter einem großen alten Walnussbaum saßen Vater, sein Freund Onkel Aleksandr, den alle nur »Knochen« nannten, und mein Onkel Witalij. Sie unterhielten sich über Tauben, die große Leidenschaft eines jeden sibirischen Kriminellen. Onkel Witalij hielt eine Taube in den Händen, breitete den Flügel aus, zeigte ihn Vater und Knochen und erklärte irgendetwas.
    »Nicolai 2 , Söhnchen, töte ein Huhn und bring es deiner Mutter. Sag ihr, sie soll es ausnehmen und daraus eine Suppe für heute Abend kochen. Onkel Knochen bleibt bei uns, ein bisschen reden.«
    »Ein bisschen reden« bedeutet, dass die Männer der Familie die ganze Nacht zusammensitzen und essen und trinken, bis sie nicht mehr können und einer nach dem anderen erschöpft zu Boden geht. Wenn die Männer ein bisschen reden, stört niemand sie, jeder kümmert sich um seinen Kram und tut so, als gäbe es den Ort, an dem diese Zusammenkunft stattfindet, gar nicht.
    Ich rannte in den Hühnerstall hinten im Garten und packte das erstbeste Huhn, das ich fand, ein normales Huhn mit rötlichem Gefieder, ziemlich kräftig und gar nicht nervös. Ich trug es zu dem Baumstumpf, auf dem wir den Hühnern immer den Kopf abhackten. Es versuchte nicht zu fliehen und sah ganz unbesorgt drein, ja, es schaute sich interessiert um, wie bei einer Stadtrundfahrt. Ich drückte es mit dem Hals auf den Stumpf, doch als ich das

    Messer hob, um ihm den Garaus zu machen, zuckte das Huhn plötzlich lebhaft, befreite sich aus meinem Griff und pickte auch noch kräftig nach meinem Kopf. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hosenboden: Ich war von einem Huhn besiegt worden. Vater und die anderen hatten das Spektakel beobachtet. Onkel Witalij lachte, und auch Knochen musste grinsen, aber mein Vater war so ernst wie nur was. Er stand auf und kam auf mich zu.
    »Steh auf, du Möchtegern-Mörder! Gib das Messer her, jetzt zeige ich dir mal, wie man das macht!« Er ging auf das Huhn zu, das ein paar Meter neben der Stelle, wo sich die Komödie zugetragen hatte, ein Loch scharrte. Mein Vater machte einen Buckel wie ein Tiger, der sich gleich auf die Beute stürzen wird. Das Huhn scharrte seelenruhig weiter, wozu, wusste es ganz allein. Plötzlich schnellte mein Vater nach vorn und wollte zupacken, doch das Huhn wich seinem Griff mit einer schnellen Bewegung aus und pickte ihm gleich unterhalb des Auges ins Gesicht.
    »Heilige Mutter Gottes! Es hätte mir fast das Auge ausgepickt!«, schrie mein Vater. Mein Onkel und Knochen auf der Bank unter dem Nussbaum standen auf und rannten zu ihm. Zuvor jedoch setzte Onkel Witalij die Taube zurück in den Käfig und hängte ihn hoch, außer Reichweite unserer Katze Murka, die bevorzugt Tauben schlug, weshalb sie sich immer in der Nähe von Onkel Witalij aufhielt, der den ganzen Tag mit den Vögeln zugange war.
    Nun stürzten sich die Erwachsenen gemeinsam auf das Huhn, das aber auch jetzt nicht nervös wurde und auf sehr effiziente Weise jedes Mal entwischte. Nach einer Viertelstunde vergeblicher Versuche hielten die drei Männer atemlos inne und schauten auf das Huhn, das mit unerschütterlicher Entschlossenheit die Erde beiseite scharrteund sich seinen Hühnerangelegenheiten widmete. Mein Vater lächelte mich an und sagte:
    »Lassen wir es leben, dieses Huhn. Wir werden es nicht töten: Soll es hier bleiben, im Garten, und tun, was es will.«
    Abends erzählte ich Großvater, was passiert war. Er lachte herzlich, dann fragte er mich, was ich von der Entscheidung meines Vaters hielt. Ich antwortete mit einer Gegenfrage:
    »Warum soll man dem einen Huhn die Freiheit schenken, den anderen aber nicht?«
    Großvater sah mich
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