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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sein Wort so viel gilt wie das eines Erwachsenen, ist selten.
    Später, etwa mit dreißig, landete Igel wegen versuchten Polizistenmordes im Gefängnis. Zwar fehlte es anBeweisen und Zeugen, aber ihm war der Paragraf über die »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« zum Verhängnis geworden, denn zum Beweis bedurfte es lediglich der Beschlagnahme von ein paar Pistolen in der Wohnung des Betreffenden sowie eines Vorstrafenregisters: Wenn er sich mit den Kötern absprach, konnte der Richter die Strafe auf fünfundzwanzig Jahre verschärfte Haft ausdehnen. In der Sowjetunion war Justitia alles, nur nicht blind, und manchmal hatte es eher den Anschein, als betrachtete sie uns alle durchs Mikroskop.
    Mein Onkel war mit Igel befreundet, im Knast waren sie in derselben »Familie« gewesen: Da mein Onkel vor ihm rausgekommen war, ging er an seiner Statt zum alten Taiga, der damals im Sterben lag, und überbrachte ihm die Grüße seines Adoptivenkels. Bevor er starb, hatte Taiga meinen Onkel gesegnet und ihm aufgetragen, den ersten Jungen, der in unserer Familie geboren würde, nach meinem Urgroßvater Nikolaj zu nennen, seinem Jugendfreund, der mit siebenundzwanzig von der Polizei erschossen worden war. Der Junge, der fünf Jahre danach als erster geboren wurde, war ich.

    Onkel Witalij und ich gingen zu Fuß, es war nicht weit, nur eine halbe Stunde. Igel besaß keine eigene Wohnung, er wohnte als Gast bei einem alten Kriminellen namens »Tafelspitz«, dessen Haus am Rand unseres Viertels stand, bei den Feldern, wo der Fluss eine weite Biegung machte und im Wald verschwand.
    Das Gartentor stand offen. Es war Sommer und ziemlich heiß; im Hof unter Weinlauben, die angenehmen Schatten machten, saßen Tafelspitz und Igel. Sie tranken »Kwass«, ein Erfrischungsgetränk aus vergorenem Schwarzbrot. Der Kwass hatte einen kräftigen Geruch, der in der stehenden heißen Luft sofort in die Nase stieg.
    Als wir eintraten, stand Igel auf und lief meinem Onkel entgegen: sie umarmten sich und küssten sich drei Mal auf die Wangen, wie es bei uns Brauch ist.
    »Na, alter Wolf, kannst du noch beißen? Haben dir die Köter nicht alle Zähne eingeschlagen?«, fragte Igel, als ob nicht er gerade aus dem Knast gekommen wäre, sondern mein Onkel.
    Aber ich wusste, warum er das sagte. Mein Onkel hatte im letzten Jahr im Gefängnis eine schlimme Zeit durchgemacht, es ging um eine Frage der Ehre: Er war einem alten Kriminellen zu Hilfe geeilt und hatte einen Wachmann angegriffen. Die anderen Wachleute rächten sich mit unmenschlicher Folter, sie schlugen ihn, bis er sich nicht mehr rührte, und hinterher duschten sie ihn ab und ließen ihn eine ganze Nacht lang im Freien liegen, mitten im Winter. Er war krank geworden und hatte nur mit Glück überlebt, doch seine Gesundheit hatte gelitten, er hatte chronisches Asthma, und ein Lungenflügel faulte weg, so dass Großvater immer witzelte, er habe nur den halben Sohn aus dem Knast zurückbekommen, die andere Hälfte sei dageblieben und verfaule jetzt.
    »Und du, wo ist deine Jugend? Hässlich und alt bist du geworden! Wo sind deine besten Jahre hin?«, antwortete mein Onkel und sah ihn mit Tränen in den Augen an. Es war offensichtlich, dass die beiden enge Freunde waren.
    »Und wer ist dieser Barfuß hier, das ist doch wohl nicht der Sohn von Jurij?«, sagte Igel mit einem schiefen Lächeln.
    »Doch, das ist mein Neffe. Wir haben ihn Nicolai genannt, wie der alte Taiga wollte, möge die Erde für ihn so weich sein wie Daunen ...«
    Igel beugte sich zu mir herunter und schaute mir aufmerksam in die Augen, und ich schaute zurück. Er hatte sehr helle, fast weiße Augen mit einer Spur Hellblau; siesahen nicht menschlich aus, sie machten mich sehr neugierig, und ich betrachtete sie immer weiter, als ob sie von einem Augenblick zum anderen die Farbe wechseln müssten.
    Igel legte mir die Hand auf den Kopf und wuschelte mir durchs Haar, und ich lächelte ihn an, als ob er zur Familie gehörte.
    »Das wird mal ein Mörder, der Junge hier, der ist aus unserem Holz, der Herr stehe ihm bei ...«
    »Ein aufgewecktes Kerlchen ist er ...«, sagte mein Onkel, und man hörte seiner Stimme an, wie stolz er war, »Kolima, Junge, sag für Onkel Igel und Onkel Tafelspitz das Gedicht von dem Ertrunkenen auf!«
    Es handelte sich um Onkel Witalijs Lieblingsgedicht. Wann immer er betrunken war und losziehen wollte, um einen Köter zu töten, schickten meine Großeltern mich zu ihm wie eine Therapiemaßnahme,
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