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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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lächelnd an und sagte:
    »Nur wem das Leben und die Freiheit wirklich etwas bedeuten und wer bis zuletzt darum kämpft, der hat es verdient, in Freiheit zu leben ... Selbst wenn es nur ein Huhn ist.«
    Ich dachte eine Weile darüber nach und fragte:
    »Und wenn alle Hühner eines Tages so werden wie das hier?«
    Nach einer langen Pause antwortete Großvater:
    »Dann wird man sich daran gewöhnen müssen, dass es abends keine Hühnersuppe mehr gibt ...«
    Die Idee der Freiheit ist den Sibirern eben heilig.

    Als ich sechs war, nahm Onkel Witalij mich mit zu einem Freund, den ich noch nie gesehen hatte: Als ich geboren wurde, war er schon im Gefängnis und saß eine lange Haftstrafe ab. Er hieß Aleksandr, aber mein Onkel nannte ihn »Igel«.
    Igel war an diesem Tag entlassen worden, nach fünfzehn Jahren Knast. Bei uns Sibirern ist es Brauch, dass die ersten, die einen gerade entlassenen Sträfling besuchen, ihre Kinder mitnehmen: Das gilt als gutes Omen, als Glücksbringer für das zukünftige Leben als Krimineller inFreiheit. Die Kinder zeigen diesen Leuten, die so lange aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren, dass ihre Welt eine Zukunft hat und dass das, was sie getan haben, ihre Ideale und die Erziehung zum Kriminellen nicht vergessen sind und nie vergessen werden. Von all dem begriff ich natürlich nichts, ich war nur neugierig darauf, diesen Mann kennenzulernen.
    In unserem Viertel landete täglich jemand im Gefängnis oder wurde daraus entlassen, und deshalb war für uns Jungen der Umgang mit Leuten, die gesessen hatten, nichts Besonderes; wir wurden ja selbst darauf hin erzogen, einmal dort zu landen, und wir redeten über den Knast wie über die normalste Sache der Welt, so wie andere Jungen über den Wehrdienst redeten oder darüber, was sie mal werden wollten. Trotzdem gab es Häftlinge, die in unseren Erzählungen zu Helden, zu Vorbildern wurden, denen wir es unbedingt gleichtun wollten: Wir wollten ihrem schillernd abenteuerlichen Leben nacheifern, einem Leben, das wir aus den Erzählungen der Erwachsenen kannten und das wir uns dann gegenseitig weitererzählten, wobei wir es mit den Details nicht so genau nahmen, bis es zum Märchen geworden war, zur phantastischen Geschichte. Igel war so einer: ein Mythos, eine jener Gestalten, von denen sich unsere jugendliche Vorstellungskraft nährte. Man erzählte sich über ihn, schon der Heranwachsende sei als Räuber in eine der berühmtesten Banden unserer Gemeinschaft aufgenommen worden, die aus angesehenen alten sibirischen Kriminellen bestand und von einer anderen legendären Gestalt angeführt wurde, die wir unter dem Namen »Taiga« kannten.
    Taiga war der Prototyp des sibirischen Kriminellen: Als Sohn krimineller Eltern hatte er von klein auf an Überfällen auf Werttransportzüge teilgenommen und viele Polizisten getötet. Es kursierten wundersame Geschichtenüber ihn, in denen er als weiser, mächtiger Krimineller erschien, der die kriminellen Aktionen perfekt ausführte und zugleich, da er bescheiden und menschlich war, die Schwachen beschützte und jede Art von Ungerechtigkeit bestrafte.
    Taiga war schon alt, als er Igel kennenlernte. Er half dem Waisenkind auf seine Art, indem er ihn Gesetze und Moral der Kriminellen lehrte, und bald war Igel für ihn wie ein Enkel geworden. Und Igel verstand es, sich einen Ruf zu erwerben.
    Einmal hatte die Polizei ihn und fünf weitere Kriminelle umstellt; es gab keinen Fluchtweg. Alle aus seiner Bande hingen dem alten sibirischen Glauben an und würden sich nie lebend erwischen lassen, sondern so lange Widerstand leisten, bis sie gewonnen hatten oder tot waren. Weil er noch so jung war, hatten seine Gefährten Mitleid und boten ihm einen sicheren Ausweg an, er sollte sich retten können, doch aus Respekt vor ihnen lehnte er ab. Sie waren davon überzeugt, dass sie alle sterben würden, die Polizisten belagerten sie weiter, doch plötzlich tat Igel etwas Schlaues: Er versteckte das MG hinter dem Rücken, lief unter Schreckensschreien auf die Polizisten zu und bat um Hilfe, als wäre er ganz ohne sein Zutun in eine Auseinandersetzung zwischen Polizei und Kriminellen geraten. Die Köter ließen ihn tatsächlich durch, und als er hinter ihren Linien war, zog er das MG hervor und mähte sie alle nieder. Seine Tat rettete die Alten, und Igel wurde zum festen Mitglied ihrer Bande, mit allen Rechten eines erwachsenen Kriminellen. Für uns Jungen war er das große Vorbild: Ein Heranwachsender, der es fertigbringt, dass
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