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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schwarz, und er war am ganzen Körper tätowiert, selbst im Gesicht. Normalerweise nahm er mich mit in den Garten, wo er mir den Fluss zeigte und Märchen undGeschichten aus der Verbrecherwelt erzählte. Er besaß eine kräftige Stimme, sprach aber leise und ruhig, als käme seine Stimme aus der Ferne und nicht aus ihm selbst. Am meisten beeindruckten mich seine Augen: blau, aber schmutzig, moorig, mit einem leichten Grünstich. Sie schienen losgelöst von seinem Körper, als wären sie kein Teil von ihm. Sie waren tief, und wenn er sie ganz ruhig, ohne Anzeichen von Nervosität, auf einen richtete, war es, als würde man geröntgt: Tatsächlich hatte sein Blick etwas Hypnotisches. Links in dem runzligen Gesicht verlief eine lange Narbe, eine Erinnerung an seine kriminelle Jugend.
    Ich ging also zu Großvater Kusja und erzählte ihm alles, wobei ich zugab, dass es mir schon gefiel, eine Pika zu besitzen, nur dass meine Freunde jetzt anders mit mir umgingen als früher. Sogar mein bester Freund Mel benahm sich, als ob ich eine heilige Ikone wäre, vor der man brav und höflich sein musste, dabei waren wir doch, wie man bei uns sagt, »mit derselben Axt geschlagen«.
    Großvater Kusja lachte, aber nicht boshaft: Zur Berühmtheit, sagte er, tauge ich wohl nicht.
    Dann hielt er mir eine seiner langen Ansprachen. Er riet mir, mich ganz natürlich zu verhalten. Die Tatsache, dass ich nun Besitzer einer Pika war, mache mich nicht anders als die anderen, ich hätte einfach nur Glück gehabt und mich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort aufgehalten, und wenn dies der Wille des Herrn gewesen sei, so solle ich mich bereit machen für die Verantwortung, die Er mir übertragen hatte. Nach dieser Ansprache ging es mir, wie jedesmal, besser.
    Großvater Kusja hat mich die alten Verhaltensregeln der Kriminellen gelehrt, die sich in den letzten Jahren vor seinen Augen gewandelt hatten. Er machte sich Sorgen, immer fange es bei den kleinen Dingen an, die wenigbedeutend erschienen, und am Ende stehe der totale Verlust der eigenen Identität.
    Damit ich das in mein Hirn bekam, erzählte er mir immer wieder ein bestimmtes sibirisches Märchen, eine Art Metapher für Männer, die, angezogen von falschen Verlockungen, den falschen Weg einschlagen und schließlich ihre Würde verlieren.
    Das Märchen handelte von einem Rudel Wölfe, die eine schlimme Zeit durchmachten, weil sie schon lange nichts mehr gefressen hatten. Der alte Leitwolf aber beruhigte die anderen, er bat sie, Geduld zu haben und abzuwarten, früher oder später würden schon Wildschweine oder Rehe vorbeikommen, und dann würden sie reiche Beute machen und sich endlich wieder die Bäuche vollschlagen. Ein junger Wolf aber, der keine Lust hatte, noch länger zu warten, wollte das Problem auf die Schnelle lösen. Er beschloss, den Wald zu verlassen und bei den Menschen um Nahrung zu bitten. Der alte Wolf versuchte ihn aufzuhalten und sagte, wenn er von den Menschen Essen nähme, würde er ein anderer werden und aufhören, ein Wolf zu sein. Der junge Wolf scherte sich nicht um ihn und antwortete hämisch: Wenn man etwas in den Magen bekommen will, dann kommt es nicht darauf an, bestimmte Regeln zu befolgen, sondern darauf, dass man etwas hineinbekommt. Nach diesen Worten machte er sich auf den Weg ins Dorf.
    Die Männer gaben dem jungen Wolf ihre Abfälle zu fressen, und jedes Mal, wenn er sich den Bauch vollschlug, nahm er sich vor, danach zurück zu den anderen in den Wald zu gehen, aber dann war er doch zu träge und verschob die Rückkehr jedes Mal, bis er schließlich das Leben im Rudel, die Freude an der Jagd, die Befriedigung, wenn man die Beute mit den Gefährten teilt, völlig vergessen hatte.
    Er begleitete nun die Menschen auf die Jagd und half ihnen statt den Wölfen, unter denen er geboren und groß geworden war. Eines Tages schoss einer der Jäger auf einen alten Wolf, der verletzt zusammenbrach. Der junge Wolf rannte hin, um ihn seinem Herrn zu bringen, doch als er ihn mit den Zähnen packen wollte, erkannte er den alten Leitwolf. Er schämte sich und wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich beendete der alte Wolf das Schweigen mit seinen letzten Worten:
    »Ich habe mein Leben als Wolf in Würde gelebt, ich habe viel gejagt und mit meinen Brüdern viele Beutetiere geteilt, und deshalb sterbe ich jetzt glücklich. Du hingegen wirst dein Leben in Schande leben, allein, in einer Welt, zu der du nicht gehörst, weil du die Würde eines freien Wolfs
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