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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Autoren: Christoph Marzi
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Kapitel 1
The Times They Are A-Changing’

    Die Welt ist gierig, und manchmal verschwinden Menschen in ihrem Schlund, ohne jemals wieder gesehen zu werden. Emily Laing war sechzehn, als ihre beste Freundin Aurora Fitzrovia gemeinsam mit Master Micklewhite, dem sie bei Nachforschungen in einer dringlichen Angelegenheit zur Hand gehen musste, vom Angesicht der Erde verschwand. Es gab keinen Brief und auch keinen Hilferuf, keine Zeugen und nicht den geringsten Hinweis. Während ihrer Rückreise aus Konstantinopel widerfuhr den beiden Schreckliches, und als der menschenleere Orient-Express im Bahnhof
Elephant & Castle
einfuhr, da kündete nurmehr ein verwüstetes Abteil von dem Schicksal, das sie uns entrissen hatte.
    Fassungslos standen das Mädchen und ich auf dem Bahnsteig inmitten einer aufgeregten Menschenmenge. In den Gesichtern spiegelten sich Entsetzen und Verzweiflung. Jeder der hier Anwesenden hatte das mysteriöse Verschwinden eines geliebten Menschen zu beklagen. Keiner konnte sich erklären, was während der Fahrt von Frankreich nach Britannien geschehen war. Nicht ein einziger Fahrgast war mehr aufzufinden gewesen. Spurlos verschwunden waren die Menschen, die in der uralten Metropole von Paris noch die Abteile gefüllt hatten.
    So fing es an.
    An einem Tag im Winter.
    »Was glauben Sie, Wittgenstein«, fragt das Mädchen, »werden wir sie finden?«
    Emily Laing, der ich einst am Fuße der großen Rolltreppe in der Tottenham Court Road begegnet war, sitzt mir gegenüber in dem luxuriösen Abteil des Zuges, der uns fortbringen wird.
    Fort aus der Stadt der Schornsteine.
    Hinüber zum Kontinent.
    »Fragen Sie nicht«, antworte ich ihr.
    Beide denken wir an den Anblick, der sich uns vor wenigen Tagen auf dem Bahnsteig geboten hat. Es ist wahrlich kaum zu glauben, dass man den Zug wieder hergerichtet hat, in so kurzer Zeit.
    »Sie lebt noch«, sagt Emily. »Ich kann es spüren.«
    Ich schweige.
    Die Dinge liegen zu sehr im Dunkeln.
    »Und Micklewhite?«
    Sie zuckt die Achseln.
    Denkt an ihrer Freundin Mentor.
    Sieht mich fragend an.
    Müde betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster, indes sich die letzten Passanten anschicken, den Zug zu besteigen. Kalt wirkt die Welt da draußen. Verändert.
    Das Mädchen gibt keine Ruhe. »Wohin wird uns das alles nur führen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Immerhin ist dies die Wahrheit.
    Die mysteriösen und bedrohlichen Geschehnisse, die seit einigen Wochen schon ihre mächtigen Schwingen über London ausbreiten, und die Sorge um unsere Gefährten lassen uns diese Reise antreten. Hoffend, dass es nicht bereits zu spät ist.
    Doch sollte ich meiner Erzählung nicht vorgreifen.
    Schließen Sie die Augen und lauschen Sie meinen Worten. Begleiten Sie mich in die Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss. Dorthin, wo alles begonnen hat und alles enden wird. Nach London, in die uralte Metropole, deren Herzschlag unser aller Leben bestimmt. Tauchen Sie ein in das undurchdringliche Netz aus schmalen, vom Regen ersäuften Straßen und Gassen, wo sich der kalte Nebel, den die heimtückische Themse gebiert, um die rußigen Hälse der Häuser windet und allzeit nach den Menschen greift. Es ist eine fleischige und gefräßige Stadt, die sich unersättlicher Begierde hingibt. Ihr Herz schlägt dort, wo die U-Bahn endet und sich ein Labyrinth aus Katakomben und Tunneln erstreckt, in dem man auf Dinge stößt, die wunderbar und erschreckend zugleich sein können.
    Meine Schutzbefohlene kannte sich dort aus.
    Emily Laing, die in einem heruntergekommenen Waisenhaus drüben in Rotherhithe am anderen Themse-Ufer aufgewachsen war, hatte endlich ihren Platz in der Stadt der Schornsteine gefunden. Schicksalhafte Geschehnisse hatten sie damals meinen Weg kreuzen lassen, und am Ende hatte ich sie dann sogar aufgenommen. In dem großen Haus in Marylebone, wo sie von da an ein Zimmer unter dem Dach bewohnte und sich von Peggotty, meiner Haushälterin, umsorgen ließ. Letzten Endes jedoch war Emily noch immer ein Waisenkind, das voller Unsicherheit herauszufinden versuchte, wer es war. Noch immer trat sie fremden Menschen mit Misstrauen und Argwohn gegenüber. Noch immer versteckte sie ihr künstliches Auge hinter einer Strähne des rot glänzenden Haars.
    »Das Mondsteinauge«, hatte sie mir offenbart, »gehört nun einmal zu mir.« Mit dieser Feststellung hatte sie meinen Vorschlag, ihr ein modernes Glasauge anfertigen zu lassen, strikt abgelehnt. »Ich weiß, dass die Menschen mich nur des Auges wegen
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